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Der Mythos St. Pauli – Erinnerung und Gegenwart

„Wo sind die Singspielhallen? Wo die Vergnügungspaläste, die lustigen Schießstände, die unverfälschten Kneipen in den Seitenstraßen, die lebensgefährlichen, dürftig beleuchteten Straßenecken, wo aus finsteren Hausfluren plötzlich ein Mensch mit vorgehaltenem Revolver auftauchte? Im Film mag es dergleichen noch geben, wie es für die Lichtbildindustrie noch immer die malerischen Montmatre-Keller, für den Feuilletonismus noch immer die großmütigen, hitzigen und überaus farbig bekleideten Pariser Apachen gibt. – Die Tatsachen sehen ein wenig anders aus. (…)  Das alte St. Pauli, das St. Pauli von vorgestern, stirbt völlig aus, das neue St. Pauli, das amerikanisierte, pariserisch durchblutete St. Pauli, St. Pauli von übermorgen, gewinnt von Tag zu Tag an Boden. Eine der seltsamen Kneipen nach der anderen, wie das eigenartige „Museum“ mit hängenden Fischen, dem Embryo eines Urmenschen in Spiritus und tausendfachen echten und imitierten Dingen aus allen Herren Ländern, die fabelhaft mit Stimmung geladenen Negerkneipen, die Treffpunkte der ansässigen „Ganoven“, wie der berüchtigte Fuchsbau, alle diese werden entweder von einer modernisierten Betriebsamkeit mit  Stumpf und Stiel verschlungen, oder für die Bädeckerreise auffrisiert. Die Straßenbeleuchtung wird besser, jagende Autos schießen über den Hamburger “Boulevard de Montparnasse“ , schlicht bürgerliche Bierrestaurants, gemütliche Kaffeehäuser, hie und da eine nette Winkneipe mit undenkbar niedrigen Preisen, Oberbayernrummel, Kinopaläste, stimmungsgeladene Ballhäuser, noch ein Hippodrom, aber auch schon modernisiert –  so sieht heute die Reeperbahn aus.“

Quelle: Hamburgischer Correspondent Nr. 445Mo, 3.Beilage, Seite 1 / 26.9.1926  „Das sterbende St. Pauli“

Hamburg und St. Pauli nach 45 bis in die 50er

Bei Kriegsende offenbarte sich die Bilanz des totalitären Naziregimes: Die Zahl der in Hamburg lebenden Juden sank von ca. 22.000 Mitte der Zwanziger Jahre auf etwa 700 bei der Befreiung 1945.  Man geht davon aus, dass ca.10.000 Hamburger Juden durch Auswanderung entkamen.

Ehemalige jüdische Unternehmen die „arisiert“ wurden:    Modehaus Hirschfeld (Neuer Wall, bis 1938, danach „Fahning“), Modehaus Robinsohn (Neuer Wall), Kaufhaus Tietz (Jungfernstieg, später Alsterhaus), Optikgeschäft Champbell (Jungfernstieg), Bankhaus Warburg, Bucky-Kaufhaus (Eimsbüttler Chaussee), Kaufhaus Schäfer (Bergedorf). – Die Aufzählung ist ganz gewiss nicht vollständig.

Im KZ Neuengamme fanden zwischen 1938-1945 etwa 55.000 Menschen den Tod. Bei Kriegsende war Hamburg eine der am stärksten zerstörten Städte Deutschlands, die Hälfte des Wohnraums war vernichtet, nur 20 % blieben unbeschädigt. Der Hafen, der Motor der Hamburger Wirtschaft,  war zu 80 % zerstört, es fand weder Import- noch Exporthandel statt, und den Werften war der Schiffbau bis 1951 untersagt.

Durch  Zuwanderung stieg Hamburgs Bevölkerungszahl von 1945 bis Ende 1947 um 500.000 auf 1,5 Millionen. 1948 lebten rund 200.000 Menschen in Notunterkünften, viele davon in Nissenhütten aus Wellblech. (In den 1950er Jahren galt Hamburg als „Hauptstadt der Vertriebenen“, noch 1954 lebten 275.000 Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten in Hamburg.) Wer nur auf die Lebensmittelkarten angewiesen war, existierte von den amtlichen Rationen. Das waren 1945 knapp 1200 Kalorien pro Tag. Im Winter 1945/6 standen Brennmaterialien zum Heizen nicht zur Verfügung. Die Strom- und Gasversorgung wurde stark rationiert. Die Menschen begannen  sich Brennmaterial auf Vorrat zu besorgen – durch Plündern von Kohlenzügen und Abholzen in den Wäldern und an den Straßen. Zentren des Schwarzhandels waren der Großneumarkt, der Goldbekplatz und der Hansaplatz in St. Georg. Insbesonders auf St. Pauli, auf der Reeperbahn, vor allem der Talstraße bis hin zum Pferdemarkt, entwickelte sich bereits 1944 einer der größten Straßenschwarzmärkte Hamburgs. Dort konnten alle Lebensmittel und andere Waren, die sonst nirgendwo zu bekommen waren, erworben werden. Zwischen den Bordellen und den Absteigen bestanden Verbindungen zum Schwarzmarkt, insofern, dass sich dieser teilweise in die Bordelle verlagerte und die Prostituierten ihrerseits auf dem Straßenmarkt tätig waren. So war es üblich, dass bis zur Währungsreform in den Bordellen zu Schwarzmarktpreisen abgerechnet wurde. Ein wesentlicher Teil der Geschäfte wurde im Tausch oder gegen Tabakwährung abgewickelt. Eine Zigarette, der sogenannte „Ami“ hatte  einen Gegenwert von 6 bis 20 RM. Der Bruttoverdienst eines männlichen Arbeiters betrug 1946  42 RM wöchentlich. Ein Kilo Butter konnte auf dem Schwarzmarkt bis zu 500 RM kosten, ein Dreipfundbrot 20 RM, ein Pfund weißer Zucker 80 RM und ein Pfund Fleisch 60RM. Immer wieder riegelten britische Militärpolizei und deutsche Schutzpolizei bei Razzien ganze Straßenzüge ab,(allein im März 1946 wurden 150 Razzien durchgeführt) ohne den schwarze Markt nennenswert eindämmen zu können. Erst die Währungsreform von 1948, mit der die D-Mark eingeführt wurde, leitete den Niedergang des Schwarzhandels ein. Über Nacht stand ein umfangreiches Angebot von Waren, die bis dahin gehortet worden waren, in den Regalen.

Die Militärregierung genehmigte bereits 1945 die Gründung von Gewerkschaften und die Bildung von vier politischen Parteien. Es entstanden die SPD, die FDP, die CDU und die KPD. 1946 finden in Hamburg die ersten freien Parlamentswahlen seit 1932 statt: Aus ihnen geht die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) als Sieger hervor; neuer Erster Bürgermeister wird Max Brauer. 1952 wird die bis heute gültige Verfassung Hamburgs beschlossen, das seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland (1949) ein selbständiges deutsches Bundesland ist. 1952 wurde der 100.000. Wohnungs-Neubau eingeweiht und Hamburg entwickelte sich mit dem Wiederaufbau  neben der traditionellen Rolle als Hafen- und Handelsstadt, auch zu einem Medienstandort. Wichtige Verlagshäuser ließen sich in Hamburg nieder : der Alex-Springer-Verlag, und der Heinrich Bauer-Verlag. Das Magazin „Der Spiegel“ war seit 1952 in Hamburg ansässig, das Wochenmagazin „Die Zeit“ hatte seit 1946 eine Lizenz, ebenso die Illustrierte „Stern“. Außerdem wird Hamburg zum Hauptsitz des NDR und zu einer Dependance der Schallplattenindustrie und erhält mit dem Studio Hamburg eine wichtige Filmproduktionsstätte.

1965 entstand das Verlagshaus „Gruner&Jahr“ aus einem Zusammenschluss der Verleger John Jahr („Brigitte“, „Capital“) und Gerd Bucerius („Die Zeit“, „Stern“) mit dem Druck- und Verlagshaus von Richard Gruner. Seit 1976 hält die Bertelsmann AG über 70% der Anteile.

Für die damalige Stadtplanung stellten die Kriegszerstörungen der Operation „Gomorra“ von 1943 die entscheidende Zäsur dar.  Der Generalbebauungsplan von 1947, wie auch die Aufbaupläne von 1950 und 1960 sahen keine grundlegende Rekonstruierung der historischen Stadtstruktur vor, sondern richteten sich nach städtebaulichen Leitbildern, die im Funktionalismus und in der Moderne verhaftet waren und die großflächigen Abriss und  die Auflösung der vorhandenen Bau- und Raumstruktur bedeuteten. Die Stadtplanung nahm die Grundzüge der Bebauungspläne von 1941 und 1944 auf. Deren Zielvorgabe war eine aufgelockerte funktionale Stadt mit geringerer Wohndichte und vielen Grünanlagen. Zu Beginn der 50er Jahre hatten in der Innenstadt noch knapp 25.000 Einwohner gelebt. 1964 hatte sich diese Zahl annähernd halbiert. Wohnungen waren in Büroraum umgewandelt und Schulen geschlossen worden. Anfangs der 1950er Jahre wurde die seit 1940 geplante Ost-West-Straße durch die ehemalige Kernstruktur der Altstadt gelegt und beim Wohnungsbau in Hamburg  galt die Praxis, das alle Gebäude, die vor 1918 gebaut worden waren, prinzipiell zum Abriss freigegeben waren. Während Wohnanlagen aus der Weimarer Republik wiederaufgebaut wurden, riss man Gebäude aus dem 19. Jahrhundert massenhaft ab oder machte keine Anstalten sie zu erhalten.

Am Elbufer zwischen den Landungsbrücken und Altona sahen die nationalsozialistischen Pläne, entwickelt vom Architekten Konstanty Gutschow, den Abriss sämtlicher Altbauten vor um an dessen Stelle ein monumentales Gauzentrum mit einer 250m hohen Skyline und einer Versammlungshalle für 50.000 Menschen zu errichten. Diese Planungen wurden 1942 wegen der Kriegsereignisse abgebrochen. Im Zuge der Vorplanung zu Gutschows Elbufergestaltung wurde der Grund und Boden im entsprechenden Gebiet von der Stadt aufgekauft. Auch wenn das Projekt nicht realisiert wurde, waren die neuen Besitzverhältnisse prägend für die spätere Entwicklung. Der zugrundeliegenden Idee, soziale Brennpunkte durch Abriss und Neubebauung aufzulösen, bzw. zu entschärfen, wurde weiterhin nachgegangen, was sogar noch die Sanierungspolitik der 70er- und 80er Jahre deutlich dokumentiert. Um für die City-Bebauung freie Hand zu haben, erklärte die Stadt weite Flächen in der Stadt zu „Untersuchungsgebieten“, in denen zu prüfen sei wie sie in Zukunft genutzt werden sollen. Solange keine Ergebnisse zustande kamen, bestand „Planungsunsicherheit“. Ein Umstand der viele Hausbesitzer davon abhielt in die Häuser zu investieren um notwendige Sanierungsmaßnahmen durchzuführen. So wurde der Abriss ganzer Quartiere vorbereitet, dessen Häuser dann für „unbewohnbar“ erklärt werden konnten. Fast ganz St. Pauli war eines dieser „Untersuchungsgebiete“.

St. Pauli und Teile von Altona Altstadt blieben von den Zerstörungen des 2. Weltkrieges weitgehend verschont, aber das dicht besiedelte Grenzgebiet zu Sankt Pauli zwischen Nobistor und Allee, Holsten- und Große Elbstraße und der angrenzenden Altonaer Altstadt war nach dem Krieg ein großflächiges Ruinenfeld. Das Quartier, das bereits der Obrigkeit in der Weimarer Zeit wegen seiner politisch wie sozial kaum kontrollierbaren Bevölkerungsmischung ein Dorn im Auge war, wurde nach Kriegsende nicht wieder aufgebaut. St. Pauli hat die Bombardements des 2. Weltkrieges relativ gut überstanden, hat aber weder an die Operetten- und Theaterkultur, die bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme bestand, noch an die Varietekultur der 20er Jahre, wieder anknüpfen können. Der Kultur von Tanz, Gesang und Striptease war unter den Sittenwächtern der 50er Jahre kein öffentlicher Raum gegeben und verschwand im Dunstkreis von überteuerten Preisen und  Nepp in den Hinterzimmern.

Die Staatsoper die trotz Kriegsschäden ihren Spielbetrieb bereits 1946 eröffnete, das Schauspielhaus, das Thaliatheater und die Konzerte in der Musikhalle dominierten die Hamburger Kulturlandschaft in den 50er Jahren. Daneben gab es die Kammerspiele (1945 von Ida Ehre eröffnet), das Junge Theater (1951) das seinen Sitz an der Neuen Rabenstraße hatte und 1957 nach Barmbek umzog (seit 1973 Ernst Deutsch Theater), das Theater im Zimmer (1948), das Altonaer Theater und das theater 53 das bis 1958 seinen Sitz in einem der Flakbunker auf dem Heiligengeistfeld hatte.

Viele Gebäude am Spielbudenplatz waren ein Opfer der Bomben, die Tanzbetriebe und Theater entlang der Reeperbahn vom Zirkusweg bis zur Großen Freiheit waren größtenteils zerstört. Einzig das St.Pauli Theater blieb praktisch unbeschadet, dort wurde im August `45 das Stück „Zitronenjette“ aufgeführt, über eine schlagfertige Zitronenverkäuferin in den Kneipen des Hafens, die bereits 1940, während des Nationalsozialismus, eine populäre Theaterprotagonistin war. Im Juli 1945 erhielten 10 Hamburger Kinos eine Betriebsgenehmigung und ab Dezember 1945 waren bereits 5 Tanzlokale und Kabaretts auf St. Pauli wieder geöffnet, darunter die „Jungmühle“ und das „Hippodrom“ in der Großen Freiheit. Der erste Dom fand 1946 auf dem Spielbudenplatz statt. Das Operettenhaus und der Trichter wurden in funktionaler Architektur wiederaufgebaut. Das Operettenhaus eröffnete 1953. Der Trichter wurde bis 1958 betrieben, dann entstand an dessen Stelle ein Bowlingcenter.

Ab Oktober `45 war der Film „Die Große Freiheit Nr. 7“ mit Hans Albers in der Hauptrolle in Hamburg zu sehen. Der Film war das Ereignis. Die Menschen standen in langen Schlangen vor den wenigen, geöffneten Kinos. Karten, die regulär 3 RM kosteten, wurden von Schwarzmarkthändlern für bis zu 300RM gehandelt. „Die Große Freiheit Nr. 7“ vom Regisseur Helmut Käutner, 1943 gedreht, war zu dieser Zeit einer der ersten deutschen Farbfilme und galt den Nationalsozialisten als offizielles Prestigeprojekt. Ein Großteil des Films wurde in nachgebauten Kulissen in Babelsberg und später, wegen der Bombardements, in Prag gedreht. Bei den Außenaufnahmen in Hamburg durften keine zerbombten Häuser gezeigt werden – und auf noch etwas achtete der Regisseur – bei allen Hafenaufnahmen ist auf den Schiffen keine einzige Hakenkreuzfahne zu sehen. Die Uraufführung erfolgte Ende 1944 im Ausland, in Schweden, Dänemark und in der Schweiz,. In Deutschland wurde der Film trotz wiederholter Umarbeitungen nicht aufgeführt. Erst im September 1945 wurde der Film von den Alliierten in West-Berlin freigegeben.


Eine mit Hans Albers vergleichbare Popularität erlangte Freddy Quinn in den 50er Jahren. Er trat ab 1951 als Liedersänger mit Gitarre in St. Pauli in der Washingtonbar (Bernhard-Nocht-Straße 75) auf und wurde dort 1954 von Talentsuchern der Firma “Polydor” entdeckt und unter Vertrag genommen. Er wurde, mit über 1000 Titelaufnahmen und über 60 Millionen verkauften Tonträger, einer der erfolgreichste Schlagersänger der Nachkriegszeit  und spielte auch in einigen Filmen mit. So in „Heimweh nach St.Pauli“(1951), wo Jayne Mansfield in einer Gastrolle zu sehen ist und in „Freddy, die Gitarre und das Meer“ von 1954, mit einem Dreh in der Kneipe Onkel Otto(Bernard-Nocht-Str./Balduintreppe)

Die filmische Tradition des russisches Produktionsbüro (Goskino) aus der Weimarer Zeit, wurde noch nach dem Krieg von „Realfilm“ (Vorgänger der Trebitsch-Filmproduktion, größtenteils sowjetisch finanziert)mit anspruchsvollen Literaturverfilmungen bis zur deutschen Teilung wiederbelebt. Die St. Pauli-Filme hatten sich ihrerseits zum eigenen Genre entwickelt. Etliche Hans-Albers-Filme, von „Der Draufgänger“ (1931, R. Richard Eichberg) und „Auf der Reeperbahn Nachts um halb eins“, bis zum „Herz von St. Pauli“ (1957, R. Wolfgang Liebereiner) spielten im Milieu. Ein sehenswerter Film ist der vom Regisseur Francesco Rossi in den 50ern gedrehte Film „Auf St. Pauli ist der Teufel los“, mit sehr vielen Drehs von Originalschauplätzen, die inzwischen dokumentarischen Wert besitzen. In den 60ern zog die erfolgreiche Fernsehserie „Polizeirevier Davidswache“ von Jürgen Roland eine ganze Reihe von Folgefilmen hinter sich her. Filme wie „Mädchenjagd in St. Pauli“, „Die Engel von St. Pauli“ oder „Zinksärge für die Goldjungs“ – allesamt triviale Gangsterfilme, die im St. Pauli Milieu spielten, sich aber oft einen pseudo- dokumentarischen Anstrich gaben und so den Mythos St. Pauli – als Zentrum von Lust und Laster weiterhin schürten. 1962 gab es noch 14 normale Filmtheater, die mit der Zeit geschlossen wurden,  u. a. das Aladin/ Reeperbahn 89; Oase/ Reeperbahn 147,  Radiant/ Reeperbahn 31; Knopf´s Lichtspiele/ Spielbudenplatz 19; Union/ Spielbudenplatz 24. Mit der Schließung des „Oasekino“(Reeperbahn,  Ecke Lincolnstraße) im Jahr 2001 verschwand das letzte Kino auf dem Kiez. Neuere, erwähnenswerte St.- Pauli-Filme sind  „St. Pauli Nacht“ und „Der König von St. Pauli“ Sönke Wortsmann produzierte 1999 „St. Pauli Nacht“. Der Regisseur  nähert sich mit seinen Milieubeschreibungen einem relativ zutreffenden Querschnitt durch den Kiez, wie er heute noch existiert und gewährt einen Einblick hinter die Kulissen. Der Film hat keine Hauptdarsteller im üblichen Sinne, da seine einzelnen Akteure in etwa gleicher Bedeutung nebeneinander agieren Er verzichtet weitgehend auf musikalische oder szenische Effekte, was dem Film einen dokumentarischen Touch gibt. „Der König von St. Pauli“, als sechsteilige Serie im Fernsehen ausgestrahlt, wurde 1997 vom Regisseur Dieter Wedel fertiggestellt. Der Film spielt in einem fiktiven St. Pauli-Milieu der 50/60er Jahre, um eine St.-Pauli-Größe mit seinem Striplokal und schildert Konkurrenzien, Mafiöses und dem Alltag auf dem Kiez.

Arndt Ute, Thomas Duffe, Bernd Gerstäcker, 1995, „St Pauli – Gesichter und Ansichten vom Kiez“, Historika Photoverlag, Hamburg

Bremer Dagmar, 1987, „Die räumlich-soziale Bedeutung von städtischen Umstrukturierungsprozessen am Beispiel von Altona-Altstadt/St. Pauli-Süd“, Verlag Sautter + Lackmann, Hamburg

Freund-Widder Michaela, 2003, „Prostitution und ihre staatliche Bekämpfung in der Freien und Hansestadt Hamburg vom Ende des Kaiserreichs bis zu den Anfängen der Bundesrepublik“, Lit-Verlag, Münster

Gobecker Kurt(Hg.), 1998, „ Die Stadt im Umbruch“, Kabel Verlag, Hamburg

Sigmund Monika, Renate Kühne, Gunshild Ohl-Hinz, Ulrike Meyer, 1996, „ Man versuchte längs zu kommen und man lebt ja noch – Frauen-Alltag in St. Pauli in Kriegs- und Nachkriegszeit“, St. Pauli-Archiv, Druckerei in St.Pauli, Hamburg

Das Prostitutionsgewerbe und Rotlichtmilieu seit der Nachkriegszeit

Der Tauschhandel Geschlechtsverkehr gegen Lebensmittel und Zigaretten wurde zu einem quasi alltäglichen Phänomen der Nachkriegszeit. Viele Frauen prostituierten sich oder gingen Verhältnisse mit Besatzungssoldaten ein, um ihre Familie zu ernähren und zu schützen und um nicht selbst vergewaltigt zu werden. Um eine Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten zu verhindern wurde das System der Bordellprostitution übernommen und die Überwachung der eingeschriebenen Frauen weitergeführt. Gegen die massenhafte Gelegenheitsprostitution führten die britische Militärpolizei und die Hamburger Sittenpolizei verschärft Razzien durch. Ziel dieser Maßnahmen waren neben Lokalen im gesamten Stadtzentrum, die Wartehallen großer Bahnhöfe, die Parkanlagen der Alster zur Stadtmitte, der Jungfernstieg und der Gänsemarkt, dort wo die Briten ihre Quartiere bezogen hatten. Stundenhotels und Privatwohnungen die als Absteigequartiere von Prostituierten genutzt wurden, gab es vor allem in St. Pauli und St. Georg. Die Reeperbahn und der Steindamm waren die Straßen mit dem größten Durchgangsverkehr an Frauen, die der heimlichen Prostitution nachgingen. 1946 wurden von der Sittenpolizei 6.014 Frauen festgenommen, bei 763 wurde eine Geschlechtskrankheit festgestellt. In den gleichen Zeitraum verhaftete die britische Militärpolizei 10.601 Frauen, von denen 709 geschlechtskrank waren. 1947 zog sich die britische Militärregierung völlig von der Kontrolle der Geschlechtskrankheiten zurück und übergab diesen Bereich der Gesundheitsbehörde. Die Polizei hatte, obwohl sie, wie auch der Hamburger Senat gegen diesen Beschluss der Briten opponierte, nur noch eine unterstützende Funktion inne. Die Razzien bei denen massenhaft Frauen festgenommen worden waren und die zunehmend in die Kritik der Öffentlichkeit gerieten, wurden eingestellt.

Für die Mädchen und Frauen die im Zeitraum der nationalsozialistischen Herrschaft in Hamburg als „sittlich gefährdet“ entmündigt wurden und im Farmsener Heim verwahrt wurden, gab es nach Kriegsende keine Befreiung, wie sie die Überlebenden der Konzentrationslager erlebten. Die Kriterien der Entmündigung wurden seitens der britischen Besatzungsbehörden nicht hinterfragt. Um die 250-300 entmündigten Frauen wurden in der geschlossenen Anstalt Farmsen „verwahrt“. Die Praxis der Entmündigung wurde auch nach 1945 fortgesetzt. Ein Großteil der Hamburger Fürsorgerinnen, die direkt nach dem Krieg aus politischen Gründen entlassen worden waren, hatten 1947 bereits wieder ihre alten Positionen inne. Erst 1949 mit der Verabschiedung des Grundgesetzes wurde das Prozedere der Anstaltseinweisung und Entmündigung erschwert.

Vor den Bombenangriffen 1943 hatte es in Hamburg ca. 80 Bordelle mit 800 Prostituierten gegeben. Bei Kriegsende gab es noch 42 Bordelle mit 402 registrierten Frauen. Diese lebten und arbeiteten weiterhin in den Bordellen während die Anzahl der frei wohnenden Frauen kontinuierlich zunahm. Sie lag 1947 bei 250, 1948 bereits bei 350 und 1949 bei ca. 550. Die Prostituierten mussten sich 2x wöchentlich auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lassen. 1950 waren es 47 Bordelle. 25 Bordelle befanden sich in der Winkelstraße, 17 in der Herbertstraße und 5 in der Lohestraße. Die Zahl der eingeschriebenen Bordellprostituierten sank kontinuierlich von 1950 mit 384 Frauen auf 252 im Jahr 1972. Die Anzahl der freiwohnenden registrierten Frauen stieg hingegen proportional an: 1950 mit 639 Frauen, auf 1.025 Frauen im Jahr 1960, bis auf 2.019 Frauen im Jahr 1972. Der durchschnittliche Tagesverdienst einer Prostituierten 1948 wurde seitens zuständiger Beamter auf 50-60 Mark geschätzt. Zwischen 1945-49 war laut Anweisung eine Bestrafung von Zuhältern mit Zuchthausstrafen verboten. Dies änderte sich zum Oktober `49. Ab diesem Zeitpunkt war eine Haftstrafe bei rechtskräftiger Verurteilung sogar vorgeschrieben. Alle im Jahr 1950 verurteilten Zuhälter erhielten daraufhin mindestens ein Strafmaß von 9 Monaten.

Die Bordellstraße Lohestraße wurde durch die Bombenangriffe 1943 bis auf ein Haus zerstört. Bis 1949 wurden dort drei weitere Bordelle ausgebaut und die Straße erneut mit einem Tor versehen. Anfang der 50er Jahre wurden diese Etablissements geschlossen und die dort lebenden Frauen auf die Herbert- und Winkelstraße verteilt. Die Bordelle in der Winkelstraße und in St. Pauli, nahe bei der Großen Freiheit und des Nobistors, die „Kleine Marienstraße“ wurden ebenfalls bis Mitte der 50er geschlossen. Parallel zu der Schließung der Bordellstraßen entwickelte sich auf St. Pauli in der Kastanien- und Taubenstraße ein neuer Straßenstrich mit Absteigen, Bars und Bordellen. Die Winkelstraße, ehemals Ulrikusstraße, letzter Bestandteil eines Hamburger Prostitutionsquartiers, verschwand anfangs der 60er mit dem Neubau des prämierten und inzwischen denkmalgeschützen Uni Lever-Hochhauses(Ecke Valentinskamp/Caffamacherreihe/Dammtorwall) aus den Stadtplänen. An der Strasse Pepermölenbek, der ehemaligen Bachstraße, die vom Nobistor bis zum Altonaer Fischmarkt geht, direkt angrenzend an das Quartier „Hexenberg“, zog sich auf ganzer Länge ein Straßenstrich hin, der in den Fischmarkt mündete, dem traditionellen Revier der „Dockschwalben“, die inzwischen vermehrt LKW-Fahrer bedienten.

1953 wurde das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom Bundestag verabschiedet. Es beruhte auf dem Reichsgesetz von 1927 und setzte neben der medizinischen Kontrolle auf die sozialfürsorgerische Betreuung und sollte die unter dem Besatzungsrecht verabschiedeten landesrechtlichen Vorschriften vereinheitlichen. Eine Beteiligung der Polizei war, wie in Hamburg bereits praktiziert, nur noch in Form einer unterstützenden Tätigkeit der Gesundheitsbehörden vorgesehen. Nach diesem Gesetz mussten sich die registrierten Prostituierten zweimal wöchentlich auf  Geschlechtskrankheiten untersuchen lassen und zwar auf die Dauer von mindestens 6 Monaten. Mit einem nachgewiesenen Umzug in das Elternhaus, einer Heirat oder der Aufnahme eines normalen Arbeitsverhältnisses, konnten die Frauen aus dieser Untersuchungspflicht entlassen werden. Die Frauen hatten aber auch die Möglichkeit sich bei einem zugelassenen Arzt kostenfrei untersuchen zu lassen und dessen Attest bei der Hamburger „Zentralen Beratungsstelle“ einzureichen. Außerdem wurde der §361 StGB in modifizierter Form übernommen. Prostitution in der Nähe von Schulen und Kirchen und in Wohnungen mit Kindern zwischen 3-18 Jahren blieb damit weiterhin strafbar.

„Nach 45 waren zunächst endlose Reihen Wurstbuden St. Paulis Hauptattraktion; sie trugen der Reeperbahn die Bezeichnung „Knackwurstallee“ ein. Als die Fresswelle abebbte, glaubten die St. Pauli- Unternehmer zuerst, im Vorkriegsstil mit sittsam verhüllten Tänzerinnen das D-Mark-Geschäft ankurbeln zu können. Aber selbst an Sonntagen, die einst das Hauptgeschäft brachten, blieben die Etablissements leer. (…) Die Kneipiers stellten ihr Programm um: Damenringkämpfe im Schlamm und Revuen von „100 nur mit Bikinis bekleideten Badenixen“ waren die ersten Attraktionen, die wenigstens für einige Zeit wieder volle Kassen garantierten. Doch St. Paulis Vergnügungsmanager mussten bald stärkere Anreize ersinnen. In den Schaukästen der Lokalitäten wurden die Fotos der mit Bikinis bekleideten Damen durch Bilder von Schönheitstänzerinnen ersetzt, die meistens nicht mehr am Körper trugen als Halsketten und Ringe. Auf reißerischen Plakaten wurden „scharf gemixte Nackt-Revuen“ angepriesen. Doch im April 1956, drei Jahre nachdem das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften vom Bundestag beschlossen worden war, brach plötzlich und ohne erkennbaren Anlaß ein „Bildersturm“ los. Über Nacht wurden mehr als 400 Fotos von Unverhüllten beschlagnahmt und über eine Anzahl von Nachtclub-Besitzern harte Geldstrafen verhängt. Auf der Suche nach weniger anstößigen, jedoch ebenso wirksamen Werbemethoden kam den St. Pauli-Wirten schließlich die heute noch erfolgreich praktizierte Idee, als Ersatz für Nackedeis in den Schaukästen grellbunte Plakate aufzustellen, die in monumentalen Schriftzügen „erregende Sittenfilme“ und „intime Sittendramen in Technicolor“ anpreisen. Kellner avancierten zu Filmvorführern, Nachtlokalchefs zu Drehbuchschreibern und Regisseuren, die im Sachsenwald bei Hamburg oder in der Lüneburger Heide ihre „Original Pariser Streifen“ herunterkurbelten.“

Der Spiegel vom 6. August 1958

Bekannte Etablissements in der „Großen Freiheit“ in den 50ern waren die Kabaretts „Jungmühle“, das „Bikini“, in dem Damen-Schlamm-Ringkämpfe geboten wurden, und das Hippodrom“, dessen Besitzer Wilhelm Bartels war. In dem Kabarett „Indra“(Große Freiheit 64) traten  akrobatische Schönheitstänzerinnen, orientalische Degenartisten und Tanzkapellen auf. Weiterhin erwähnenswert das Kabarett „Tabu“ wo der Plakatmaler Erwin Ross 1955 seine Karriere als Maler und Innenausstatter begann.

Auf vielen Werbeflächen, vorzugsweise denen der alten Peep-, und Stripbars und Kneipen von St. Pauli prangten spärlich bekleidete vollbusige Frauen. Ihr Schöpfer ist der Plakatmaler Erwin Ross, der fast 40 Jahre lang für die Clubbesitzer von St. Pauli gemalt hat. Die gespreizten Frauenbeine an den Außentüren der „Ritze“ sind sein Werk, wie er auch die Frontseiten vieler nicht mehr existierender Cabarets in der großen Freiheit gestaltet hat. Begonnen hat er seine Karriere als Plakatmaler der Konsum-Genossenschaft Eberswalde in der ehemaligen DDR, wo er politische Losungen, Arbeiterhelden, sowie Marx, Engels und Lenin im laufenden Dutzend malte. Er zog vor dem Mauerbau mit seiner Frau nach Hamburg und wurde in St. Pauli heimisch.

Das Angebot der Kabaretts und Nachtclubs variierte zwischen „Entkleidungsrevuen“, CanCan, türkischen,  spanischen oder indischen „Schönheitstänzen“, Silhouettentheater und später zu sogenannten „Sittenfilmen“. Ende der 50er Jahre soll das Geschäftsgebaren vieler Lokale auf St. Pauli unseriös geworden sein, außerdem war in den 50er Jahren der sogenannte „Zechraub“ noch ein weit verbreitetes Phänomen. Darunter verstand man Gelegenheitsraub, der in unmittelbarer Nähe von Gastwirtschaften und „verrufenen“ Kneipen stattfand. Opfer waren in der Regel milieufremde Gäste, die beobachtet wurden und auf dem Nachhauseweg, unter Androhung oder vollzogener Körperverletzung, beraubt wurden. Da diese Entwicklung geschäftsschädigende Ausmaße angenommen hatte, initiierten 1958 der St. Pauli-Verein und  Mitglieder des Gaststättenverbandes eine Aktion „St. Pauli ist für alle da“, um etwas gegen die überteuerter Getränkepreise, Nepp und die Faustrechtsmentalität zu unternehmen. 1961 gründeten die Besitzer von 19 Striplokalen einen  Selbsthilfe-Verein, um in einer Art freiwilligen Selbstkontrolle gegen Nepp und allzu undurchsichtige Preisgestaltung vorzugehen.

1964 wurde wiederum (u.a. von dem Besitzer des Cafe Keese und Kurt Collien, der Direktor des Operettenhauses) eine ähnliche Initiative gegründet bei der die teilnehmenden Lokal- und Barbesitzer mit öffentlichkeits-wirksamen beleuchteten Glaskästen für ihre Etablissements warben. Diese Initiative war allerdings nur in Hinblick auf die Internationale Gartenbauausstellung und dem zu erwartenden Publikumsandrang initiiert worden. Ende Dezember 1964 war der Verein wieder aufgelöst und die Glaskästen verschwunden.

„Die Gäste merkten nie etwas. Im Separe holten sie sofort ihren Diddel raus, wollten sich da einen runterholen lassen, dabei wurden ihnen die Ketten abgenommen um` Hals, in die Taschen gegriffen; was die da drin hatten, das wurde alles rausgeholt. Nein, das hat er nicht gemerkt. Eine Frau rechts, eine andere links, und dann wurde er so richtig durchgecheckt, Brieftaschen durchstöbert und rausgegeben zum Nachgucken, ob da was drin war was man noch gebrauchen konnte, oder was für`n Typ der war. Dann wurde das wieder reingereicht und bei ihm reingepackt. Wenn er viel hatte, blieb auch mal n` Scheinchen da oder zwei. Je nachdem.(…) Und dann die Geschichte mit dieser Karte, mit den Preisen. Also wenn man die hinten im Separee gelesen hat, da war Rotlicht, da konntest du die rote Schrift nicht sehen. Du konntest nur die schwarzen Schriftzüge lesen. Wenn aber die Bullen kamen und die Freier sagten, hier das stand nicht auf der Karte, dann kam Archi – vorne am Büfett war ja richtig helles Licht – und sagte: „Hier, Herr Wachtmeister, da steht`s  doch!“ Denn nun konntest du das Rote ja wieder lesen. Die Bullen kriegten ja auch immer abgesteckt.(…) da kamen zwei, dreitausend Mark ja schnell ran.“

Zitat aus:  Eppendorfer Hans, 1982 „Szenen  aus St. Pauli“, Seite 63

Viele der kleinen Läden, Bars, Clubs, Restaurants, Theaterkeller, Live-Shows und Kabaretts, die nach der Währungsreform gegründet wurden, mussten im Zuge der allgemeinen Restauration einer konservativen Sexualmoral, wegen Restriktionen seitens des Ordnungsamtes wieder schließen, bzw. wurden zu Spielcasinos und Pizzerias umgewandelt. Die Vorgehensweise des Ordnungsamtes gegen die Kabaretts und Life-Lokale wegen zu freizügiger Entkleidungs- und Schönheitstänze führte dazu, dass viele der kleinen Läden Separees in den hinteren Räumen errichteten, wo die Nacktshows weiterhin gezeigt wurden, bei allerdings völlig überteuerten Getränkepreisen. Was wiederum zu weiteren Auflagen seitens des Ordnungsamtes führte: keine Separees mehr, keine Türen, nur noch ein leichter Vorhang war erlaubt. In Konsequenz bedeutete dies einen Konzessionsentzug für viele Läden. Um für die gleichen Läden eine neue Konzession zu beantragen holten sich die ehemaligen Konzessionsträger Strohmänner die ihrerseits wieder bezahlt werden mussten. Daraus entstand das Verhältnis von ineinander verschachtelten Mehrfach-Vermietungen und Verkonzessionierungen der verschiedenen Lokale, was zu einem völlig überzogenen Anstieg der Miet- und Unkosten führte. Diese Entwicklung führt dazu das viele der kleinen Lokale kaputtgingen und das es zu einer weitgehenden Konzentration von Immobilien und Kapital in die Hände weniger kam. Am Ende dieser Entwicklung befanden sich beispielsweise viele Kabaretts in der Großen Freiheit im Besitz von Willi Bartels, bzw. zeitweilig unter der Geschäftsführung des Betreibers von Club „Safari“.

Alexander, Rolf B., 1968, “Prostitution in St. Pauli“, Lichtenberg-Verlag, München

Barth Ariane, 1999, „Die Reeperbahn“, Spiegel- Buchverlag, Hamburg

Freund-Widder Michaela, 2003, „Prostitution und ihre staatliche Bekämpfung in der Freien und Hansestadt Hamburg vom Ende des Kaiserreichs bis zu den Anfängen der Bundesrepublik“, Lit-Verlag, Münster

Stark Jürgen, 1992, „Das Herz von St. Pauli“,  Verlag Kammerer&Unverzagt, Hamburg

Töteberg, Michael, 1990, „Filmstadt Hamburg : von Emil Jannings bis Wim Wenders“, VSA-Verlag, Hamburg

Die 60er Jahre – Musikclubs, Liberalisierung und die „St. Paul-Nachrichten“

Schon in den 50er Jahren entwickelte sich auf St. Pauli eine lebendige  Musikszene. Erste englische und amerikanische Jazz-Band kamen nach Hamburg, ehemalige Swing-Heinis und junge Jazzer gründeten Bands und es entwickelte sich eine größere Clubszene mit Tanzmusik und Lifeauftritten. Cafe Lausen und Mehrer mit ihren Tanzsälen entwickelten sich zu bekannten Jazz-Treffs. 1953 zog  Bernhard Keese mit seinem Café von der Fruchtallee auf die Reeperbahn 19/21. Cafe Keese, ein Tanzlokal mit Tischtelefon wurde schnell zu einem beliebten Treffpunkt  und Kontaktbörse – beim „Ball Paradox“ herrschte Damenwahl. Mitte der 50er Jahre löste der Traditional Jazz und der Skiffle, von England kommend, den Swing in der Publikumsgunst ab.

Ab Ende 1959 ließ Bruno Koschmider in seinen Etablissements „Kaiserkeller“ und „Indra“, beide Große Freiheit, britische Rockn`Roll-Bands wie die „Jets“ und später dann die Beatles auftreten. Hamburgs ersten Rock ’n‘ Roll-Club, der „Kaiserkeller“, Tür an Tür mit Striptease-Läden und Milieukneipen, wurde ein voller Erfolg, da es seit der Bill Haley-Tournee und den begleitenden Saal- und Straßenschlachten so gut wie keine Auftrittsmöglichkeiten für Rockmusiker gegeben hatte. Ein weiterer Musikclub dieser Zeit war der Top Ten-Club auf der Reeperbahn. Erst 1962 wurde der „Star Club“ in den Räumen der ehemaligen „Stern-Lichtspiele“ (1949-1962), Großen Freiheit 39 eröffnet. Die damalige Organisation von Konzerten unterschied sich ganz erheblich zu denen heutzutage. So wechselten sich in den ersten 6 Monaten des Star Clubs bis zu 8 Gruppen pro Nacht ab und gastierten dort meistens für die Zeit eines Monats als sogenannte Haus- oder Resident- Bands. Die „Dominos“ aus Liverpool traten bsp. zwischen `62 und `63   332x im Star Club auf, die deutsche Band „The Rattles“ kam auf 159 Auftritte, die „Beatles“ auf 79. Viele der Musiker, die im Starclub auftraten, trafen sich nach den Konzerten mit ihrem Anhang in den nahegelegenen Kneipen „Grete & Alfons“ und in der „Blockhütte“. Abgesehen von einigen deutschen Bands wie ‚The Rattles‘, ‚The German Bonds‘ und ‚The Rivets‘ traten vorwiegend Liverpooler Gruppen auf. Neben verschiedenen Stamm-Gruppen standen regelmäßig international bekannte Stars auf der Bühne, zunächst überwiegend US- Rock’n’Roll-Bands, dann immer mehr englische Künstler. Zu den Musikern die hier gastierten zählen u.a. The Searchers , Jerry Lee Lewis , Little Richard , Jimi Hendrix , Black Sabbath, die Beatles und Cream.

„Ich war ein halbes Jahr nach der Eröffnung zum erstenmal da, vorher war ich nur ein paarmal im Top Ten. In den Star-Club ging man nicht als Bürgersöhnchen, weil es hieß, da seien nur die Rocker. (…) Das hat sich aber geändert, als ich hörte, daß die Beatles dort wieder spielten, da hab ich mich dann mal getraut. Und ich war gleich unheimlich begeistert (…) daß da irgendwie so Typen auf der Bühne waren, mit denen man sich wesentlich eher identifizieren konnte und die die Musik live machten, die man nur von Platten her kannte, das hat den wesentlichen Kick ausgemacht. Ich bin dann auch vom erstenmal an mindestens zweimal die Woche im Star-Club gewesen. Das war in den Augen meiner Mutter und sonstiger Verwandter ganz schön gefährlich, so oft nach St. Pauli zu gehen. Aber in Wirklichkeit war das ganz cool, weil die Typen auf St. Pauli und die Portiers immergleich gesehen haben: Der will zum Star-Club, und da haben sie uns nie dumm angemacht. (…). Die Leute hatten alle Anzüge an, Krawatten und Nyltesthemden. Wer damals dazu noch Cowboystiefel besaß, war ganz besonders progressiv. Sie machten sich sorgfältig zurecht, wenn sie hingingen, das war richtig Ausgehen. In erster Linie ging man ja auch hin, um Musik zu hören und zu tanzen, nicht um rumzuhängen, dazu war der Star-Club zu faszinierend . Jeden Tag war es gerammelt voll. Der Star-Club war für die Jugend so was wie die Dame ohne Unterleib, die totale Sensation, deshalb kamen auch immer so viele.“

Frank Dostal, Sänger der „Rattles“    http://www.infopartisan.net/archive/1967/266709.html

1963 wurde der Starclub zur Zielscheibe des Ordnungsamtes, das eine amtliche Schließung des Musikclubs anstrebte.

Regierungsamtsmann Kurt Falck war der Chef  des Wirtschafts- und Ordnungsamtes. Er erwies sich nicht nur als Gegenspieler des Star-Clubs, sondern ging in erster Linie gegen eine Vielzahl von St. Pauli-Wirten und die sogenannte „Noludar-Gang“ vor, die mit K.O-Tropfen Gäste betäubte und dann ausraubte. Er entzog deren Schanklizenzen und kontrollierte erstmals im größerem Umfang, das die ehemaligen Betreiber nicht wieder über Strohmänner eine Neukonzessionierung beantragen konnten. So wurde 1963 das Striplokal „La Maitresse“ von Wilfried („Frieda“) Schulz geschlossen.

Alleine in diesem Jahr kam es zu 90 Polizeieinsätzen, u.a. zu Großeinsätzen bei denen 100 Polizisten beteiligt waren. Ein für die 60er Jahre ungewöhnliches Zahlenverhältnis. Infolge dieser Kampagne wurde dem Betreiber Manfred Weißleder im Sommer 1964 die Konzession entzogen. Auf den Betrieb des Musikclubs wirkte sich dies nicht aus, da Weißleder die Konzession auf seinen Geschäftsführer übertrug – eine für St. Paulianer Verhältnisse übliche Vorgehensweise. Der Konflikt Starclub – Ordnungsamt wurde in der deutschen Medienlandschaft, in allen großen Zeitungen und im Fernsehen, öffentlich ausgetragen, wobei dem Starclub auch in der bürgerlichen Presse, im nicht unbedeutendem Maße Sympathie zuteil wurde. Der StarClub entwickelte sich zum Mekka für jugendliche Musikfans mit Hunderttausenden von Besuchern pro Jahr und wurde über Deutschland hinaus bekannt. 1964  wurde mit den „Star-Club Records” ein Label entwickelt  über den Life-Mitschnitte und Musik-LP`s dementsprechender Musiker vermarktet und vertrieben wurden. Mit dem Boom der Musikclubs veränderte sich die Publikumsstruktur St. Paulis. Die Konzertbesucher frequentierten umliegende Kneipen und Bars, die sich auf das neue Klientel einzustellen begannen und mit der von der 68-Bewegung propagierten sexuellen Libertinage, durch die visuelle Erotica teilweise in einen antistaatlichen und emanzipatorischen Kontext gesetzt wurden, entwickelte St. Pauli im Vorfeld der staatlichen Liberalisierung von Pornographie ein neues Sendungsbewusstsein, welches sich bereits Ende der 60er Jahre mit der Aufführung des Musicals „Oh Calcutta“ (Sex, Nacktheit und Beischlaf waren Thema und wurden auf der Bühne vorgespielt) im Operettenhaus im Mainstream wiederspiegelte. 1967/8 eröffneten mit dem „Grünspan“ und dem „Birdland“ zwar zwei weitere Musikclubs in dieser Strasse, aber Ende der sechziger Jahre gehörten die Auftritte von Rockgruppen bereits zum normalen Alltag und Musikbusiness – aus der ehemaligen Subkultur war ein Milliardenmarkt geworden. Viele kleinerer Clubs mussten wegen  den extrem gestiegenen Gagenforderungen und der Auslandsteuer  -ausländische Bands müssen 28% und Solokünstler sogar 31% ihrer Einnahmen abführen –  ihr Life-Auftrittsangebot an Großveranstalter abgeben oder waren in Diskotheken umgewandelt worden. Die innovative Musikclubszene hatte sich jenseits von St. Pauli, in anderen Stadtteilen entwickelt.  Wegen dauernde Komplikationen mit dem Ordnungsamt und künstlerischem wie finanziellen Missmanagement musste der  Star Club 1969/70 schließen.

1968 hatten der Raritätenhändler Helmut Rosenberg* und der Photograph Günther Zint* die Idee für eine St. Pauli typische Kiez-Zeitung – den „St. Pauli Nachrichten(SPN)“. Gestartet wurde mit einer Auflage von 10 000 Exemplaren, mit rasant steigender Tendenz: Juni `69- 30 000, einen Monat später ist die Zeitung mit einer Auflage von 105 000 in ganz Hamburg erhältlich, Oktober `69- Auflage 205 000, November gleichen Jahres- Auflage 420 000 mit dem Verbreitungsgebiet der gesamten Bundesrepublik. Januar 1970- Auflage 780 000, Erscheinungszeitraum alle 14 Tage. Im Februar 70 droht der Zeitung eine Dauerindizierung nach dem Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften. Nichtsdestotrotz erscheinen im April `70 die St. Pauli Nachrichten mit einer Auflage von 1,2 Millionen Exemplaren wöchentlich. Inhaltlich war neben kleinen Artikeln zum Thema St. Pauli, dass Thema Sex, vor allem visuell, dominierend. Redaktionell waren die St.Pauli Nachrichten, zumindestens in den ersten 2 Jahren, beeinflusst von dem Geist der 68er-Bewegung und ihrer propagierten sexuellen Liberalisierung. Der umfangreiche Kontaktanzeigenmarkt der SPN war einer der Hauptträger der Zeitung. 1971 war es noch ungewöhnlich, sexuelle Such- und Kontaktanzeigen in einer derart offenen Form zu publizieren, was der SPN einen wachsenden Käuferkreis bescherte. Dieser ursprünglich private Annoncenteil fiel allerdings Anfang der 70er Jahre dem Trend zur Kommerzialisierung anheim, der bestimmt wurde von verdeckter Prostitution und  offensiver Produktwerbung. Bereits zu diesem Zeitpunkt existierten Adresshändler, die die Namen und Adressen zum Zweck der gezielten Direktwerbung auf den Markt feilboten. Nach einem Artikel des Spiegels (Nr.435/1971) wurden jährlich rund 125 Millionen Mark an den Kiosken für die St. Pauli-Blätter gezahlt. Ein lukrativer Markt, der der SPN viele Nachfolger bescherte – so gab es im Zeitraum 1971 an den Großstadtkiosken bereits 15 verschiedene Sex-Illustrierten zu kaufen. Die St. Pauli- Nachrichten wurden im Januar 1972 von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften für die Dauer von 9 Monaten indiziert und entwickelten sich bald zu einer Sex-Postille unter vielen. Im Rückblick kann man sagen, dass die St. Pauli Nachrichten eine Vorreiterfunktion innehatten was die Kommerzialisierung nackter weiblicher Haut auf den Titelseiten der Illustrierten und der bald darauf folgenden Legalisierung von Pornographie in Deutschland betraf.

*Harry Rosenberg(1924 – 2000 ) ein St. Pauli-Orginal, Mitbegründer der St. Pauli Nachrichten, Bekannter von Willi Bartels und Besitzer von „Harry`s Hafenbasar“ den er 1954 nach dem Vorbild von „Käpt`n Haase`s Museumskneipe“ in der Erichstraße, die in den 30ern bis in die 50er bestand, gründete. Mit dem Nachlass dieser Kneipe und vielen Kuriositäten, die die Seeleute von ihren Fahrten mitbrachten, entwickelte sich der Basar zu einem regelrechten Museum zum Anfassen und Kaufen – mit Asien- und Afrikazimmern, ausgestopften Tieren, Münz- und Schmucksammlungen, und,  und, und.  Nach seinem Tod betreibt seine Tochter Karin den Hafenbasar, der in die Erichstraße umziehen musste.

*Günter Zint war zu Zeiten des Star Clubs Photoreporter für ein Musikmagazin des Bauer Verlags und hat in den 60er Jahren für Zeitschriften wie „Konkret“, „Spontan“ und „Das Da“ erotische Fotos geliefert. Er veröffentlichte Reportagen mit Günter Walllraff und begleitete die Außerparlamentarische Opposition in den 60ern, später die Anti-Atom-Bewegung, wie auch das St. Pauli-Milieu mit seiner Kamera. Er publizierte u.a. die St. Pauli-Bücher „Die weiße Taube flog für immer davon“ und „Große Freiheit 39“. 1989 gründete Günter Zint mit vielen anderen Förderern das St. Pauli Museum, welches nach mehreren Standortwechseln und finanziellen Krisen seit 2005 von der Kulturbehörde gefördert wird

Kroner Ingrid, 1974, „Genitale Lust im Kulturkonflikt – eine Untersuchung am Beispiel der St. Pauli Nachrichten“
Tübinger Vereinigung für Volkskunde, Tübingen

Martens Rene, Günther Zint, 2000, „Kiez, Kult, Alltag“, Verlag der Hanse, Hamburg

Zint Günter ,1987,  „Große Freiheit 39,  Wilhelm Heyne Verlag, München

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Das Sexbusiness in St. Pauli 1968

Der geschätzter Jahresumsatz des Sex-Business soll in Hamburg 1968 ca. 120 Millionen Mark betragen haben. Rund 1300 Prostituierte waren zu dieser Zeit in Hamburg offiziell registriert. Die Straßenprostitution war weitaus ausgedehnter als heutzutage, vor allem in dem Quartier zur Wasserseite der Reeperbahn. In dem Quadrat zwischen den Straßen Pepermölenbek (ehemalige Bachstr.), St. Pauli Fischmarkt/ St. Pauli-Hafenstrasse und der Davidstrasse in den vielen kleinen Seiten und Nebenstrassen und in den Straßenzügen auf der anderen Seite der Davidstr., Richtung Millerntor. 1969 wurde es für die Prostituierten zur Vorschrift eine Kontrollkarte mit sich zuführen, auf der die regelmäßigen Gesundheitsuntersuchungen eingetragen wurden, den sogenannten „Bockschein“  (der Name kam von dem im Milieu so bezeichneten Gynäkologenstuhl). Konnte eine Frau diese Karte nicht vorweisen, fehlten Eintragungen oder entzogen sich Prostituierte ganz den Kontrollmaßnahmen, konnte die Polizei die Betreffenden zur Fahndung auszuschreiben oder zwangsweise eine Krankenhauseinweisung verfügen.

In der St. Pauli Hafenstraße, am Fischmarkt und beim Straßenzug Pepermölenweg, an die zu dieser Zeit noch Ruinengrundstücke aus dem Krieg angrenzten, befand sich ein reiner Autostrich. Die Frauen die dort arbeiteten hatten keine Zimmer und erledigten ihr Geschäft entweder im Auto des Kunden oder im Freien. An der Straße Pepermölenweg sollen bis an die 100 Frauen pro Nacht, bei einem Tarif von 10 Mark, gestanden haben. In der Bernard-Nocht-Straße waren die Grenzen zwischen Animiermädchen der zahlreichen Kellerbars und der reinen Straßenprostitution fließend. Dort waren mehr Gelegenheitsprostituierte anzutreffen. Die Preise sollen zwischen 15-30 Mark gelegen haben.  Desweiteren waren Prostituierte in den Straßen Lincolnstr., Herrenweidl und der Finkenstr., in Nähe des Pepermölenbeks anzutreffen.

„Bernhard-Nocht-Straße- zur „Scharfen Ecke“ mit den Spotlights, die auch tagsüber blinken. Das „Casablanca“, mit der kleinen grellgrünen Palme auf gelbem Grund. Die Türkenkneipen, in der jeden Samstag Sängerinnen auftreten, mit halbnackten Busen, aber die Augen hinter schwarzen Brillen versteckt. Schwarze, verwohnte Häuser mit kaputten Fensterscheiben. Und dahinter die Schiffe. „Washingtonbar“, “Die Kogge“, „Erosstübchen“, „Schmaal`s Hotel, „Onkel Max“, die Balduintreppe, „Lolobar“ und „Lili Marleen“. Hier spielt sich der Mittagsstrich ab. Die Freier kommen in der Mittagspause. Der Mittagsstrich ist polizeilich verboten. Deshalb kurven auch unentwegt die Polizeiautos durch die Bernhard-Nocht-Straße. Langsam, wie fette Haifische, die ihre Beute schon auf Nummer sicher haben. Wo sie auftauchen, huschen die Frauen in die Hauseingänge. Beim ersten Mal erwischt werden, kostet eine Geldstrafe. Beim zweiten Mal Knast. Die Polizei macht dabei ein gutes Geschäft. Manchmal verkleiden sie sich auch als Freier und sprechen die Frauen an. Das sind 180 DM bei jeder, die drauf reinfällt. Aber die Polizisten steigen in der Bernhard-Nocht-Straße ungern aus dem Wagen, vor allem nicht allein.“

Impressionen aus der Bernhard-Nochtstr. aus den 70er Jahren:„Schwarz war ihr Haar – Frauen auf St. Pauli“, Susanne Klippel, 1980, Frauenbuchverlag, München

Rund um die Herbertstrasse, wo zu der Zeit 220 Frauen arbeiteten bis zum Hans-Albers Platz und der Gerhartstr. war die Straßenprostitution natürlich auch stark vertreten. Diese Milieu aus Straßenprostituierten, Zuhältern und Absteigen war allerdings in Verruf geraten, da viele der dort arbeitenden Frauen ihre Gewinnspanne durch Nepp und Diebstahl erweiterten. In der Kastanienallee, der Tauben- und der Hopfenstrasse existieren bordellartige Betriebe und ein auf Absteigen angewiesener Straßenstrich nebeneinander, ca. 100 Frauen hatten die Kastanienallee als ihr Revier. Die Taubenstraße galt zu dieser Zeit als sogenannter „Babystrich“. Verhältnisse die auf einen Versuch Wiener Zuhälter zurückgingen 1965 in St. Pauli Fuß zu fassen. Diese waren aufgrund massiver Repressionen in ihrer Heimat, u.a. nach Hamburg ausgewichen. In Folge kam es zu Territorialkämpfen zwischen den Hamburger „Loddels“ und der neuen Konkurrenz, bei denen auch die hiesigen  Behörden und die Polizei auf ihre übliche Art die „Hamburger Interessen“ vertraten. Eine Folge dieser Situation war seitdem ein in die Höhe gegangener Preludinverbrauch unter den Prostituierten, das durch Beziehungen der Wiener in St. Pauli Einzug erhalten haben soll und die Konzentration von jungen Frauen (17-23 Jahre) in der Taubenstraße und z.T. in der Kastanienallee. Ungefähr 40 Frauen hatten in der Taubenstraße ihren Standplatz. Sie waren in ihrer Werbung zurückhaltender da diese Straße in erster Linie eine normale Wohn- und Geschäftsstraße war. Das Preisniveau lag höher, bis zu 50 Mark wurden verlangt.

Die Droge der 60er Jahre auf St. Pauli war das Preludin, ein Wachmacher und Appetithemmer. Wer Preludin nahm konnte Unmengen von Alkohol konsumieren, blieb wach und wurde zuweilen allerdings auch aggressiv. Nachdem die pharmazeutische Industrie Preludin durch hinzufügen eines Abführmittels entschärft hatte, stiegen viele Tablettenkonsumenten auf das damals noch rezeptfreie Captagon um. (Preludin und Captagon waren ursprünglich das Hungergefühl dämpfende Medikamente, sogenannte Schlankmacher auf Amphetaminbasis, die in Apotheken frei erhältlich waren.)

Ab Ende der 60er begannen stadtplanerische und behördliche Maßnahmen, die auf eine Zurückdrängung des Rotlichtmilieus abzielten, zu greifen. In den 60er Jahren erklärten sich viele Hamburger Stadtteile zu Sperrbezirken und nachdem zwei Großbordelle, 1967 das Eros- Center und ein Jahr später das Palais d`Amour eröffneten, wurde ein Großteil von St.Pauli ebenfalls zum Sperrbezirk erklärt. 1974 wurde der Straßenstrich am Pepermöhlenweg endgültig verdrängt, nachdem das Quartier Hexenberg oberhalb des Fischmarktes vollständig abgerissen und neubebaut wurde, obwohl ein Großteil der Häuser nur sanierungsbedürftig waren.

Das Eros-Center wurde 1967 an der Reeperbahn 170, u.a. an dem Standort des ehemaligen Hippodroms erbaut. Der Bauherr und Besitzer Wilhelm Bartel, einer der größten Immobilienbesitzer St. Paulis, investierte 4,7 Millionen Mark in dieses Projekt. Es galt zu dieser Zeit als eines der modernsten und aufwendigsten Bordelle und leitete die Ära der sogenannten Kontakthöfe und Großbordelle ein. Es wurde mit offizieller Unterstützung der Stadt Hamburg realisiert, da ein erklärtes Ziel dieses Unternehmens die Eindämmung der unkontrollierten Straßenprostitution in St. Pauli war. Der Komplex umfasste einen 400 qm großen Kontakthof in welchem sich während der Hauptgeschäftszeit bis zu 30 Frauen aufhielten. Begrenzt wurde der Hof allseitig von 3-4-geschossigen Einzelhäusern in denen sich insgesamt 136 Appartements befanden. Bartels bekam für ein Zimmer 360DM Miete pro Monat und verpachtete etagenweise. Die sechs Betreiber nahmen 3-5 x soviel Miete. Außerdem gehörten eine Automatenstraße mit erwerbbarer Erotica, ein Restaurant, eine Würstchenbude und eine Tiefgarage zu dem Komplex.. Die Frauen die dort arbeiteten begannen mit Blockschulden. Sie mussten 50 Mark Miete täglich und weitere Unkosten für jeweils 5 Tage im Voraus bezahlen. 1968 galt das Eros-Center in der Hamburger Pressöffentlichkeit teilweise als Renommierbetrieb, der einen Besuch wert war und wo die dort arbeitenden Frauen gut verdienen konnten, obwohl beide Großbordelle anfangs unterbesetzt blieben. Das Großbordell wurde 1987 geschlossen. Danach wurde es von Bartels zum Hotel „Interrast“ umgebaut, in dem über die Sozialbehörde hauptsächlich Immigranten einquartiert wurden. Später wurde ein Teil des Komplexes in das „Hotel Stern“ umgewandelt. Seit 1998 betreibt ein Kölner Unternehmer, Besitzer des Riesenbordells „Pascha“ in Köln, ein Remake des Eros-Centers, das sogenannte „Laufhaus“.

Fernsehbericht „Die letzten Tage des Eros“ ARD, 21.4.88

Wilhelm Bartel (1914 – 2008) Größter Immobilienbesitzer und „heimlicher König“ von St. Pauli.  Sein Vater war, wie auch der Vater von Hans Albers, Besitzer einer Großschlachterei. Dieser eröffnete 1928 das Ballhaus Jungmühle (Große Freiheit 21) und später das “Bikini“ . Mit 23 Jahren übernahm sein Sohn Wilhelm Bartels als Geschäftsführer das Kabarett „Jungmühle“, später kam das  Hippodrom (Große Freiheit 10-12) hinzu. Nach dem Tod des Vaters 1947, übernahm W. Bartels komplett die Geschäfte.1963 initiierte Bartels mit Bernhard Keese, Besitzer von Cafe Keese und Kurt Collien, Betreiber des Operettenhauses eine Aktion mit dem Label „Der gute Stern von St. Pauli“ in dessen Rahmen zu einer seriösen Preisgestaltung und zu dem Verzicht auf Selbstjustiz aufgerufen wurde.1984 wurde dann die „Interessengemeinschaft St.Pauli“ wiederum mit Bartels und mit Heinrich Umnus, Besitzer des Hotels „Monopol“, Bartels Pächter Hans Henning Schneidereit und dem Vorsitzenden des Gaststättenverbandes gegründet um St. Pauli touristen- und gastfreundlicher zu gestalten und gegen den „Nepp“ vorzugehen. Schneidereit (geb. 1930) war seit 1964 Besitzer des „Safari“ und zeitweise Pächter der Kabaretts Tabu, Alkazar, Indra, Colibri und der Jungmühle. Keiner dieser Life-Clubs, bis auf das Safari, existiert heute noch.  In den 80er Jahren soll Wilhelm Bartels zwischen 40-60 Gaststätten und Läden auf St. Pauli verpachtet haben. Ihm gehörten u.a. die Hotels „Hotel Hafen Hamburg“, das „Kronprinz“, „Fürst Bismark“, „Senator“ und das „Eden“, eine Handvoll „Kleinkunstbühnen“, unter anderem das „Schmidts Theater“ und das „Dollhouse“ und etliche Wohnhäuser auf St. Pauli und in ganz Norddeutschland. Sein bisher größtes Projekt war die Neugestaltung des Geländes der Astra-Brauerei (Davidstraße) mit Hotels, Wohn- und Gewerbeflächen, welches 2008 fertiggestellt wurde. Bartels verstarb gleichen Jahres.

1968 gab es in St. Pauli noch die Tanzcafes „Mehrer“ (Große Freiheit) und „Menke“ und „Lausen“ (beide auf der Reeperbahn) Das „Mehrer“ hatte eine Tischtelefonanlage zur Kontaktaufnahme. In allen drei Cafes fand eine umfangreiche Lokalprostitution statt. Das Preisniveau lag weitaus höher als bei den Straßenprostituierten. Auf diesem Gebiet sollen ca. 400 – 500 Frauen aktiv gewesen sein. Die Tarife lagen oft um die hundert Mark für einen mehrstündigen Service. Dafür wurden die Stundenhotels auf der Reeperbahn und der Großen Freiheit frequentiert. Die Zimmerkosten zwischen 20-30 Mark gingen ebenfalls zu Lasten des Freiers. Die beiden Cafés auf der Reeperbahn galten auch unter dem bürgerlichen Klientel als respektable Lokalitäten, wo gute Tanzmusik und Service geboten wurde. Dementsprechend wurde von den Frauen die dort arbeiteten, gegebenenfalls bürgerliche Umgangsformen und ein dementsprechendes seriöses Geschäftsgebaren erwartet. In den 70ern wurde aus dem Hotel Lausen ein richtiger Bordellbetrieb, bis nach der Krise des Rotlichtmilieus in den 80ern dort eine Mac-Donalds-Filiale einzog. Das Hotel,, welches inzwischen über albanische Mittelsmänner geführt werden soll, existiert weiterhin und bietet in einem Night-Club regelmäßige Stripteasevorführungen an. Das Cafe Keese bietet als einziges noch Kaffeehausatmosphäre, setzt inzwischen aber auch auf einen Mix von traditionellen Interieur und moderner Clublocation. Mencke existiert nicht mehr und vom Cafe Mehrer gibt es noch der Namenszug an der Außenfassade, ansonsten ist es zu einem Musik-Club umgebaut worden.

Alexander, Rolf B., 1968, “Prostitution in St. Pauli“, Lichtenberg-Verlag, München

Barth Ariane, 1999, „Die Reeperbahn“, Spiegel- Buchverlag, Hamburg


Die „Große Freiheit“ – Kabaretts und Transvestiten

Anfang 1970 zog das Sex-Variete „Salambo“ unter der Leitung Rene´ Durants in das Gebäude des ehemaligen Starclubs ein. Das „Salambo“ in der Großen Freiheit unter der Regie von Rene Durand galt als eines der freizügigsten Etablissements und als eines der Highlights in diesem Showgewerbe. Die 3x täglich stattfindenden Vorführungen in diesem Erotictheater waren zu dieser Zeit immer komplett ausverkauft. Die Bestuhlung zählte 150 Plätze, der Minimalverzehr lag bei 14 Mark, eine Flasche Champagner kostete damals 150 DM.  Nach dem großen Brand 1983, der das Gebäude restlos zerstörte, zog das Variete in die Große Freiheit Nr.11 um. Das Ordnungsamt entzog dem Salambo, das  als erstes Etablissement offiziell den unverhüllten Geschlechtsakt auf die Bühne geholt hatte, bzw. dem Betreiber Rene Durant, die Konzession wegen verdeckter/heimlicher Prostitution. Seine Tochter konnte, nachdem das Thema sogar in der Hamburger Bürgerschaft besprochen wurde und die ehemalige „Ruhezone“ geschlossen wurde, Anfang der 90er Jahre das Salambo wieder eröffnen. Sie konnte aber nicht mehr an die früheren Erfolge anknüpfen und 1996, nach einer erneuten Polizeirazzia wurde das Salambo wegen heimlicher Prostitution und  Waffenbesitz endgültig geschlossen.

1968 gab es mit dem „Tabu“, „Regina“, „Les Premiers“,  dem „Safari“ und dem „Colibri“, das in den 60ern und später mit dem Salambo als führendes Striptease Kabarett in St. Pauli galt, eine Reihe namenhafter Kabaretts in der Großen Freiheit, die sich neben vielen kleineren Läden auf Live-Bühnenshows spezialisiert hatten.

Im „Les Premiers“ beispielsweise, gab es neben den einschlägigen Liveshows  eine  Sauna, ein Swimming Pool und Duschen für danach und es bestand die Möglichkeit für das zahlende Publikum mit den Damen in die Sauna zu gehen, was darauf hinweist das die Grenzen zwischen Kabarett und Prostitution wahrscheinlich fließend waren.

Desweiteren gab es in dieser Strasse die „Monica-Bar“, ein Transvestitenlokal und das „Barcelona“, ein homosexueller Treffpunkt – Ausdruck der in der Nähe befindlichen Transvestiten- und Schwulenszene in der Schmuck- und Talstrasse. Obwohl sich diese Szene Ende der 60er Jahre zum Teil auch  in der Kastanienallee in den Bars „Le Punch“,  „Bar `Celona“, „Flamingo“ und „Laubfrosch“  konzentriert  haben soll. Die  Talstraße soll sich schon seit den 20er Jahren zu einem Treffpunkt der Homosexuellenszene entwickelt haben. Heute gibt es dort noch 6 Gay-Kinos und Läden sowie in den umliegenden Straßen einige Szene-Bars und Musikclubs.

„Wir oder jedenfalls die Besseren von uns werden auch gern zum Animieren in den normalen Kabaretts genommen, weil wir `nen besseren Umsatz machen. Aber da gibt`s natürlich auch Kämpfe zwischen uns und den richtigen Frauen – aus so was entsteht Hass. Denn einige von uns sind ja richtig Spitze, mit unseren dunklen Stimmen gibt`s auch keine Probleme, die schieben die Gäste meist auf Alkohol oder auf`s Rauchen. Und das Gehänge wird halt geschickt nach hinten geklebt mit Leukoplast. Das ziept am Anfang, aber da gewöhnst du dich schnell dran, kannst du wieder ablösen mit Waschbenzin. Ist ganz einfach: den Hoden schiebst du in die Bauchhöhle, is wie ne` Tasche, und den Schwanz ziehst du nach hinten durch die Beine. Das Pflaster klebst du hoch bis zum Arsch, ist hautfarben, fällt also gar nicht auf. Den Sack klebst du ringsherum, da entsteht eine richtige Mulde, in der du sogar eine Kerze oder ein Seidentuch reinstecken kannst, wenn du Show machst. Fällt fast jeder drauf rein. Im Augenblick haben wir unheimlich viele Transis hier in Deutschland, die meisten aus Südamerika oder Spanien. Die gehen auf den Strich oder Tingeln. Die sind hier als Touristen eingereist und fahren nach 3 Monaten, sobald ihre Visa ablaufen, für ein paar Tage nach Holland oder Dänemark. Mit neuen Visa für 3 Monate sind sie bald wieder da.(…) Anschaffen, Nachtleben, Animieren oder Bühne. Zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent gibt`s auf die Drinks. Cola mit Rum, Pfläumchen oder Ponnys, in der „Taverne“, im „Flesh“, in den „Drei Weisheiten“ in der Schmuckstraße oder in der Großen Freiheit im „Musikladen“ oder in der „Monica Bar“. Die Besitzerinnen sind meistens Lesben“

Zitat aus:  Eppendorfer Hans, 1982 „Szenen  aus St. Pauli“, Seite 108

Nach 2000 gab es in der noch existierenden Straßenzeile der Schmuckstraße nur noch einen kleinen Transvestitenstrich wo, Transis abends vor den Häusern standen und auf Kundschaft warteten. In der Straße gab es noch 2 Kneipen: das „Steppenwolf“ und die  „Taverne Bar“ in denen vorwiegend Transvestiten in üblicher St- Pauli-Manier die Gäste zum Trinken und Geldausgeben animierten. Aufgrund des baulichen Zustandes der Häuser ist es absehbar, das die gesamte Straßenbebauung wahrscheinlich abgerissen oder totalsaniert werden wird. In der Großen Freiheit hat sich, ausgehend von dem ständigen Zufluss thailändischer Bühnenkünstlerinnen, seit den 80ern eine dementsprechende Szene herausgebildet. Es gibt dort mehrere Stripbars und ein Bordell (Thai Paradies), in denen ausschließlich Thailänderinnen arbeiten. Laut einem Informanten sollen alle diese Läden dem gleichen Besitzer gehören. Weitergehend gab es in der Straße einen thailändischer Imbiß und an der Ecke zur Schmuckstr. die „Thai Oase“, eine Karaoke Bar mit  gemischtes Publikum, wo viele echte Karaoke-Fans ans Mikro gehen.

Alexander, Rolf B., 1968, “Prostitution in St. Pauli“, Lichtenberg-Verlag, München

20
Jan
10

Die Prostitution im Industriezeitalter bis zum Ende der Weimarer Republik

Das 19. Jahrhundert  – Die Kasernierung der Prostitution

Im Mittelalter war die systematische Organisation und die planmäßige Förderung des Frauenhauswesens mit dem Ausbau des Städtewesens parallel gegangen. Ebenso ist die Erscheinungsweise der Prostitution im 19.Jh. eng verknüpft mit der Entwicklung der großen Städte. Im Gegensatz zum Mittelalter fanden sich im 19.Jh. – durch die Landflucht und das explosionsartige Anwachsen der Städte – Prostituierte in allen Teilen der Stadt. Napoleon I. führte in Frankreich zum Zwecke des gesundheitlichen Schutzes seiner Soldaten im Jahre 1802 als erstes das System der staatlichen Reglementierung und der Kasernierung der Prostitution ein, um das französische Heer vor der Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten zu schützen. Nachdem Frankreich seine strenge Reglementierung durchgesetzt hatte, folgten fast alle anderen europäischen Länder diesem Beispiel. Das Reglementierungssystem des 19. Jahrhunderts, das die Bevölkerung vor Geschlechtskrankheiten wie Syphilis und Tripper schützen sollte, bestand aus polizeilichen und gesundheitlichen Verordnungen, die sich ausschließlich auf die Prostituierten bezogen, deren männliche Kundschaft, wie auch männliche Prostituierte aber nicht berücksichtigten. Beauftragt mit der Durchführung dieser Maßnahmen war die Polizei, speziell der Sittenpolizei. Die Aufgabe der Sittenpolizei war der Schutz der Gesellschaft vor „gesundheitlicher und sittlicher Ansteckung“. Die zentrale Forderung war die Isolierung der Prostitution, ihr Ausschluss aus der Öffentlichkeit. Dies führte in  Konsequenz zur Kasernierung der Prostituierten, d.h. zur zwangsweisen Unterbringung und Kontrolle in Bordellen und Speerbezirken, womit gleichzeitig eine institutionalisierte Überwachung der Gesundheit ermöglicht werden sollte. Neben der Sittenpolizei war für die Prostituierten auch ein Kontrollarzt zuständig. In Frankreich lag die Kontrolle bei den Kommunen und war von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich. In Marseille z.b. wurden alle Frauen wöchentlich untersucht. Für die Frauen in den Bordellen fand die Untersuchung an ihrem Arbeitsplatz statt. Die Straßenprostituierten mussten in einem Raum der Sittenpolizei erscheinen um sich untersuchen zu lassen. In England wurde im Jahr 1864 im Parlament erstmals über die Maßnahmen zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten diskutiert. In Folge kam es in England zu einer ähnlichen Gesetzgebung, die allerdings nur für die Städte galt wo Militär stationiert war.

Die verschiedenen Obrigkeiten mussten allerdings feststellen, das die Maßnahmen der stringenten Kasernierung nicht die gewünschte Wirkung zeigten, da viele Frauen, aufgrund der massiven Stigmatisierung, die die gesetzlichen Maßnahmen begleiteten, sich der Kontrolle entzogen.
In Frankreich zeigte sich Jahre nach dem erfolgten Reglement keine Verbesserung der Situation und in Christiania/Dänemark bemerkte man nach der inzwischen vollzogenen Aufhebung der Reglementierung 1888, dass die eingeschriebenen Prostituierten aus den Hospitälern zum großen Teil verschwanden und Schneiderinnen, Dienstmädchen und Kellnerinnen an ihre Stelle traten. Zum Teil waren es Prostituierte, die einen anderen Beruf angaben, aber auch viele Frauen die sich bisher von den Spitälern ferngehalten hatten und sich jetzt freiwillig behandeln ließen. In England stieß diese Gesetzgebung gleich nach ihrer Inkrafttretung auf heftige Kritik und wurde bereits 1886 wieder abgeschafft. Es gab in England eine starke Frauenrechtsbewegung, die unter dem Namen der „Abolitionistischen Bewegung“ mit ihrer Vorkämpferin Josephine Butler, Millionen von Unterschriften gegen dieses Gesetz sammelte und es zu Fall brachte. In Norwegen, Holland, Italien und der Schweiz wurde gegen Ende des Jahrhunderts die Reglementierung ebenfalls abgeschafft. In Frankreich und  Deutschland hingegen wurde sie beibehalten.

Der deutsche Reglementarismus

In Deutschland regelte der Paragraph 361 Abs.6 des Strafgesetzbuches das Verhältnis der staatlichen Behörden zu den Prostituierten. Bis zur Reichsgründung wurde der Umgang mit der Prostitution von jedem deutschen Land, bzw. Stadt selbstständig geregelt. 1871 vereinheitlichte das Reichsstrafgesetz mit dem Paragraphen §361 Nr.6 StGB und 180 StGB die Strafbestimmungen zur Prostitution. Nach dem §361 Nr.6 StGB war die registrierte Prostitution erlaubt, sofern sich die Frauen unter polizeiliche Kontrolle begaben und deren Vorschriften Folge leisteten. Verhaftet und bestraft werden konnten nach diesem Gesetz alle Frauen bei denen der Verdacht bestand, dass sie ohne sittenpolizeiliche Aufsicht, gewerbsmäßig der heimlichen Prostitution nachgingen, oder wenn sie als eingeschriebene Prostituierte den Vorschriften der Sittenpolizei zuwiderhandelten. Der §180 und §181 StGB bestraften die Kuppelei. Demnach machte sich strafbar, wer: „objektiv günstigere Bedingungen als die sonst vorhandenen herbeiführt und zwar durch Vermittlung oder Gewährung der Verschaffung von Gelegenheit zur Unzucht“ Die Zimmervermietung an Prostituierte wie auch die Einrichtung von Bordellen war somit strafbar.

Die Gesetzesauslegung differierte zwischen den einzelnen Länder und Gemeinden, die zusätzliche Polizeivorschriften zur praktischen Ausführung erließen. Der wesentliche Unterschied bestand in dem Umgang mit der Institution des Bordells, die eigentlich im Widerspruch zum Kuppeleiparagraphen stand. In München und später auch in Berlin wurde die Reglementierung mit einem gleichzeitigen Bordellverbot vollzogen, Städte wie Bremen, Stuttgart und Kiel setzten auf eine Kasernierung der Prostitution und führten die gesamte Überwachung und Organisation des Gewerbes über städtische Institutionen durch. In Hamburg führte die im Rahmen der Kasernierung weitergehende Duldung von Bordellen und die Praxis der Sittenpolizei zu wiederholten Konflikten mit übergeordneten Reichsinstanzen. Die polizeilichen Vorschriften umfassten Freiheitsbeschränkungen örtlicher und zeitlicher Art. Prostituierte war das Betreten vieler Hauptverkehrs- und Geschäftsstraßen untersagt, ebenso der Besuch der bürgerlichen Freizeitinstitutionen wie Theatern, Cafe- und Ballhäusern, manchmal sogar der von öffentlichen Badeanstalten. Es war ihnen verboten in der Nähe von Schulen, Kirchen und Kasernen eine Wohnung zu nehmen, mit anderen Prostituierten zusammen, und im Parterre zu wohnen. Jeder Wechsel in eine andere Stadt musste bei der Polizei persönlich angemeldet werden. Nachts bestand für die Prostituierten ein generelles Ausgehverbot. Mancherorts bestanden weitergehende Verhaltensregelungen wie das Verbot auf der Straße stehen zu bleiben oder nicht in offenen Wagen zu fahren. Diese freiheitsbeschränkenden Maßnahmen überwogen deutlich die gesundheitlichen, die die zwangsweise Verpflichtung zu einer ein- bis zweimal wöchentlichen Untersuchung auf Geschlechtskrankheiten vorschrieben. Mit Beginn der Registrierung wurde eine Polizeiakte für jede Prostituierte angelegt, in der, angefangen von der Familiengeschichte und Ortswechsel, bis hin zu den Gesetzesverstößen und Krankenhausbehandlungen, alles festgeschrieben wurde.

Schulte Regina, 1994, „Speerbezirke“, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg (spez.: Berliner Polizeivorschriften von 1902)

Urban Alfred, 1927, „Staat und Prostitution in Hamburg“, Verlag Conrad Behre, Hamburg

Bereits ab dem Ende des 19.Jh. gerät die Prostituierte zunehmend in das Interessengebiet der sich formierenden Kriminalpsychatrie, -psychologie, und – anthropologie. Deren Forschungsergebnisse und Gutachten zielten nicht nur auf eine Be- und Verurteilung einer Gesetzesübertretung, sondern haben die Individualität, den Charakter, den sozialen Werdegang, die „gute“ und „verdorbene“ Seele dieser Frauen zum Thema. Gleichzeitig wurde an einer neuen, informellen Kleiderordnung gestrickt, den sogenannten „objektiven“ Lebenslauf der Prostituierten. Dieser beginnt mit dem Moment der ersten Verhaftung, die die heimliche Prostitution in eine offizielle, registrierte verwandelte. Dieser polizeiliche Lebenslauf umfasste die Registratur ihrer Strafen, ihre psychische Normalität oder Abnormalität, ihre Familiengeschichte unter dem Aspekt dieser Fragestellung, ihre Aufenthalte im Gefängnis, Arbeits- oder Krankenhaus und anderen Einrichtungen. Ein wesentlicher Bestandteil setzte sich aus den Materialien der Krankengeschichte zusammen, vor allen Dingen ihrer Geschlechtskrankheiten und die Ergebnisse der regelmäßigen Zwangsuntersuchungen. Diese Datensammlung objektivierte ihre Existenz als deliquente Prostituierte, die unter diesem Vorzeichen immer als eine Kriminelle eingestuft wurde.

Der einmal registrierten Frau wurde es fast unmöglich gemacht sich eine Existenz außerhalb der Prostitution zu suchen. Der Versuch eine Arbeit zu finden scheiterte meistens daran, dass die Sittenpolizei ihre regelmäßigen Kontrollen auch am Arbeitsplatz durchführte, was dann in der Regel zu einer sofortigen Kündigung führte. Die Bedingung aus den regelmäßigen Kontrollen entlassen zu werden war der Arbeitsnachweis – und um von der Polizei unbehelligt einer Arbeit nachgehen zu können, war es notwendig von der Kontrolle befreit zu sein. Diese sittenpolizeiliche Praxis illustriert sehr deutlich warum sich der Grossteil der Frauen nicht registrieren ließ und stattdessen polizeiliche und justizielle Verfolgung in Kauf nahm. Außerdem standen die Frauen die in den Bordellen arbeiteten in der Regel in einem unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnis zum Bordellwirt, dass dem Prinzip der Schuldknechtschaft im mittelalterlichen Frauenhaus ähnlich war. Oft wurden sie über systematische Verstrickung in Schulden an das Haus gefesselt. Dies geschah über Wucherpreise für Miete und Kost und über die Besorgung von Kleidern, Schmuck und Ähnlichem, die nur als geliehen galten und abbezahlt werden mussten. In vielen Etablissements bestand der Zwang zum Alkoholkonsum zu Animierzwecken und der Wirt fungierte oft als Kontrollinstanz was die Durchsetzung der sittenpolizeilichen Vorschriften betraf.

Im Zuge der Industrialisierung stieg die Prostitution seit der Mitte des 19. Jahrhunderts enorm an. Verschiedenen Schätzungen für Deutschland im ausgehenden 19. Jahrhundert  gehen von 100.000 bis 200.000 Prostituierten, kurz vor dem 1. Weltkrieg sogar bis zu 330.000, aus. In den Städten entstand mit der elektrischen Straßenbeleuchtung, der Errichtung der großen Kaufhäuser seit 1871, der beginnenden Massenproduktion von Konsum- und Gebrauchsgütern und der damals noch neuen Repräsentation der Waren mittels großer Schaufenster, die Atmosphäre eines ständigen, zeitlich ungebundenen und immer präsenten Marktes. Dieser Umstand, wie die zunehmende Anzahl von Vergnügungsstätten – vom aufwendigen Variete oder Operettenhaus bis zum kleinen Tingeltangel in der mit einer Bühne ausgestatteten Trinkhalle – führte zu einer Belebung des Straßenbildes, in der die heimliche Prostituierte auf der Straße nicht mehr für Jeden als solche erkennbar war. Diese Schwierigkeit zwischen den „anständigen“ Frauen und den Prostituierten zu unterscheiden, wurde dann auch zu einem zentralen Argument für eine schärfere Vorgehensweise gegen die Prostitution. (belegt für Hamburg, Köln und Dortmund). Vor allem in den großen Städten kam es zu einem bedeutenden Zuwachs an Prostituierten.

In Berlin, zwischen den Jahren 1859 und 1871, soll sich die Zahl der Prostituierten verdoppelt haben während die Bevölkerung nur etwa um die Hälfte zunahm. Im Jahr 1871 gab es in Berlin ca.15000 Prostituierte bei etwa 800 000 Einwohnern. Am Anfang des 20. Jh. wurden in Berlin bis zu 50000 Prostituierte geschätzt. Die Zahl der polizeilich registrierten und kontrollierten Frauen war wesentlich geringer: im Jahr 1869 waren 1709 Prostituierte bekannt, im Jahre 1903 waren es 3709. Für Hamburg stellten sich die Verhältnisse von kontrollierter und heimlicher Prostitution ähnlich dar wie in Berlin, obwohl hier offiziell noch Bordelle bestanden, die Prostitution also nicht wie in Berlin, eine rein Vagierende war. In Hamburg war nach Polizeiberichten die Straßenprostitution:

„…in wahrhaft exorbitanter Weise entwickelt. Kaum ist der Abend angebrochen, so wimmeln der Jungfernstieg und die Hauptstraßen der Stadt von prostituierten Dirnen … Unter 10 Mädchen, die am Abend mit einem Körbchen am Arm in den Gassen einhergehen, kann fast wohl die Hälfte als öffentlich und für Geld zu erkaufen angenommen werden. Vor allem findet man in der Nähe der Absteigerquartiere zahlreiche derartige Patrouillen. Die Wanderungen der feineren unter ihnen nehmen gewöhnlich von der Gegend des Valentinskamps ihren Ausgangspunkt und verbreiten sich von da über den Gänsemarkt, Jungfernstieg, die Königinstraße, Großen Bleichen, Poststraße, Neuen Wall, die Alsterarkaden und so zurück; die niedere Sorte derselben wählen die ärmeren, entlegeneren und dunkler beleuchteten Gegenden der Stadt als Standquartier, den Sägerplatz, Kraienkamp, die Kirchhöfe, die Fuhlentwiete, die Neustraße- und vor allem die Wälle. An einzelnen Punkten der Stadt, so ganz besonders am Sägerplatz ist es oft kaum möglich, sich des Abends vor den Zudringlichkeiten dieser Mädchen zu retten, die einem in ganzen Scharen entgegenströmen.“


(Zitat aus „Speerbezirke“, Seite: 23, Regina Schulte, 1994)

Das Spektrum der Prostitution am Beispiel Berlins

Der Berliner Schriftsteller Hans Ostwald veröffentlichte zwischen 1905 und dem ersten Weltkrieg eine Vielzahl von Büchern zum Thema Prostitution und „Unterwelt“ in seiner Schriftenreihe „Großstadtdokumente“. Einer der Autoren in dieser Schriftenreihe war Magnus Hirschfeld, der über männliche Prostitution und die homosexuelle Subkultur Berlins schrieb. In der Weimarer Republik fungierte er als Herausgeber der Werke des Zeichners Heinrich Zilles. Nach Oswalds Milieubeschreibungen spiegelte die „Halbwelt der Prostitution“ die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse wider und für jede soziale Lage und Klasse gab es ein differenziertes Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Oben auf der sozialen Stufenleiter standen in Berlin die Frauen, die als Blumenhändlerinnen der vornehmen Restaurants und die Tänzerinnen und Sängerinnen einiger Theater und vieler Varietes, die abends auf dem Boulevard „Unter den Linden“ flanierten. Dort wo die Prostitution die Reichen und Aristokraten bediente, ging sie ins Konkubinat über. „Demoiselles de plaisir, Cocottes“ waren einige der Bezeichnungen für diese Kurtisanen, elitäre Prostituierte, die ihre Liebhaber in adel- und großbürgerlichen Kreisen hatten. Die Ballhäuser, Opern, Theater und Varietés waren bevorzugte Orte der Präsentation und Selbstdarstellung dieser Frauen, wobei die Grenzen zu den Stars der Varieté- und Theaterwelt und später des Films, fließend waren. Affären mit Aristokraten und Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik sorgten für Gesprächsstoff. Diese, wie auch die wertvollen Toiletten und der Schmuck, die Bühnenkostüme und die neuesten Abendkleider gaben immer wieder Anlass für Berichte in den Zeitungen. Sie bestimmten die Modetrends ihrer Zeit maßgeblich mit.

Auf der nächsten Stufe der sozialen Gegenwelt standen die Frauen, die die Männer aus dem Geld- und Bildungsbürgertum bedienten. Sie waren in der Umgebung der Friedrichstraße mit ihren vielen Hotels, Bars und Vergnügungsetablissements lokalisiert. Sie trugen traditionsgemäß einen Hut und einen Schal, oft auch einen Regenmantel und pfiffen, wenn Männer vorbeigingen, als obszön erkennbare Melodien, überließen aber in der Regel dem Mann die Initiative zur Kontaktaufnahme. (Im 19. Jh. trug eine Prostituierte dieser Klasse in der Regel einen Schlüssel in der Hand, um anzuzeigen, dass sie ihr eigenes Zimmer hatte.) Die Preise sollen bei ca. 20 Mark gelegen haben.

Eine Begegnung durfte für den Mann nicht kompromittierend sein, dies machte vereinfachte Formen der Kontaktaufnahme nötig. Ein Blick, eine Geste oder Obszönität hatten auszureichen, um denjenigen auf sich aufmerksam zu machen, der ihren Diensten nicht abgeneigt war. Ein weiteres wichtiges Mittel zur professionellen Stilisierung war die Schminke. Kaum andere Frauen schminkten sich vor der Jahrhundertwende, für den Tag, bzw. für den Gang auf die Straße, mit Ausnahme der Theater- und Variete-Künstlerinnen, wo die Prostitution traditionell verbreitet war.

In der Region um die Leipziger Straße kostete der Geschlechtsverkehr mit einer Frau 10 Mark. Die Frauen waren nicht so gut gekleidet und weitaus offensiver in ihrer Werbung, viele waren Gelegenheitsprostituierte, die oft in der Begleitung einer älteren Kupplerin waren. Diese Abstufungen gingen weiter, bis hin zu den „bescheideneren Vergnügungsviertel“, wo die Preise zwischen 5 bis 1 Mark lagen und die Kundschaft überwiegend aus Arbeitern und Soldaten bestand.  Das Angebot der Prostitution verlief parallel zum gesamten gesellschaftlichen Spektrum. Manche Frauen verdienten bei einer einzigen Begegnung bis zu zwanzigmal mehr als andere. Das Angebot war so vielfältig; von den elementarsten  Diensten, bis hin zu den kostspieligsten, weil es eben eine breite Nachfrage von Männern aus dem gesamten sozialen Spektrum gab. Auch Schuljungen und Studenten besuchten zum Teil regelmäßig Bordelle um sexuelle Erfahrungen zu sammeln.

20
Jan
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Die soziale Rekrutierung der Prostituierten

Ein Großteil der Prostituierten rekrutierte sich aus berufstätigen Frauen der Unterschicht und sozial absteigenden Kreisen der Mittelschicht. Vor allem aus Frauen, die aufgrund des wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs des traditionellen Handwerks im Zeichen der Industrialisierung vom Land oder aus dem kleinstädtischen Milieu in die Stadt abwanderten. Laut der Akten der Sittenpolizei aus den Jahren 1873/4 stammten 55% aller Prostituierten in Berlin vom Land und 22% der Frauen aus familiären Verhältnissen von Fabrikarbeitern, wiederum fast die Hälfte der Prostituierten kamen aus Handwerkerfamilien. Ähnliche Verhältnisse bestanden auch in anderen deutschen Städten, wie München und Stuttgart. Die registrierten Prostituierten in den großen Städten waren zum Großteil zugewandert. Im Jahr 1907 waren z.b. in Hamburg nur 10,8% der 408 kontrollierten Prostituierten in Hamburg geboren  Die Berufszweige aus denen sich die Prostituierten überwiegend rekrutierten, waren die der Dienstmädchen, Kellnerinnen, Verkäuferinnen, Fabrikarbeiterinnen, Näherinnen, Wäscherinnen und Plätterinnen, Kirmesangestellte, Schauspielerinnen, sowie Chor- und Ballettmädchen. Oft langte der geringe Lohn dieser Erwerbstätigkeit nicht aus um den Lebensunterhalt zu sichern, schon gar nicht wenn die Frau mehrere Personen zu versorgen hatte. So verdiente z.b. eine Näherin um 1890 in Berlin im Durchschnitt 6 Mark in der Woche, wobei sie bei geringen Ansprüchen ca. 9-10 Mark wöchentlich benötigte, um die Lebenserhaltungskosten zu decken. Viele dieser Frauen gingen neben ihrer normalen Erwerbstätigkeit der Gelegenheitsprostitution nach, um ihre Existenz zu sichern.

Die Verbreitung der Prostitution im 19.Jh. hing eng mit der Entwicklung und dem Charakter der Frauenarbeit zusammen. Für die bürgerlichen Frauen, die durch Heirat meistens finanziell abgesichert waren, folgte aus der Mechanisierung der Produktion sowie der daraus resultierenden Trennung von Arbeits- und Wohnbereich der Verlust vieler produktiver Tätigkeiten, die sie vormals im Haus und für die Familie leisteten. Die bürgerliche Familie wandelte sich von einer Produktions- in eine überwiegende Konsumtionsgemeinschaft. Die Frauen aus der Arbeiterklasse hatten im Gegensatz zu den bürgerlichen Frauen kaum freie Zeit zur Verfügung. Ihr Alltag war bestimmt durch 10-12-stündige Arbeit und zusätzliche Hausarbeit. Mit fortschreitender Industrialisierung verschärfte sich die wirtschaftliche Situation der proletarischen Frauen zunehmend, so dass viele von ihnen der Prostitution nachgingen. Für die Frauen vom Land machte die Vergütung der Arbeitskraft mit Geld für viele die Arbeit in der Stadt attraktiv, da die Arbeit von Frauen in der Landwirtschaft meistens unbezahlt geleistet wurde. Töchter und Ehefrauen zählten als mithelfende Familienangehörige und die Mägde arbeiteten in der Regel gegen Naturalien und freie Logis. Die Landflucht während der Industrialisierung war eine der größten Massenbewegungen der deutschen Geschichte und erfasste im Zeitraum 1860 bis 1925 bis zu 25 Millionen Menschen. Sozial stammten die meisten Abwanderinnen aus der Unterschichten, Töchter die nicht mehr mit einer entsprechenden Mitgift ausgestattet und verheiratet werden konnten. In vielen Fällen geschah die Abwanderung auf Betreiben der Eltern. Die Töchter wurden zum außerhäuslichen Gelderwerb weggeschickt da die Söhne im elterlichen Betrieb, im Handwerk oder in der Landwirtschaft benötigt wurden.

Im Zeitraum 1855-1898 nahm der Anteil der Arbeiterinnen an den Prostituierten um die Hälfte ab, während sich der der Dienstbotinnen versiebenfachte. Den höchsten Prozentsatz an Prostituierten hatten Mitte des Jahrhunderts noch die Industriearbeiterinnen gestellt, gegen Ende des Jahrhunderts waren es die Frauen aus den dienenden Berufen. Unter den Arbeiterinnen entwickelte sich ein Klassenbewusstsein. Aus diesem neuen, gemeinsamen Bewusstsein heraus wurde Fabrikarbeit als Möglichkeit empfunden sich frei von der Hörigkeit der häuslichen Dienste zu machen. Die damit einhergehende Moral führte oft zu einer Verurteilung von den Frauen, die der Prostitution nachgingen, „sich verkauften“, obwohl in Zeiten wirtschaftlicher Krisen und dadurch bedingter niedriger Löhne und Arbeitslosigkeit auch viele Arbeiterinnen in die Gelegenheitsprostitution getrieben wurden.

Zum Ende des 19.Jh. bestand ein zunehmender Dienstbotenmangel. Während die Zahl der Arbeiterinnen und Verkäuferinnen stetig zunahm, sank die Anzahl derer, die bereit waren als Dienstboten zu arbeiten, so dass sie aus ländlichen Gebieten rekrutiert wurden. In Berlin kamen jährlich 40 000 Dienstmädchen vom Land und  in Hamburg kamen vierfünftel aller Dienstmädchen aus den ländlichen Gebieten der Umgebung. Von den in Berlin geborenen Dienstmädchen waren viele Waisen und unehelich geborene Mädchen aus Heimen. Die Frauen vom Land  kamen meistens aus Gebieten mit niedrigen Lebensstandard. Der durchschnittliche Monatslohn betrug zwischen 15 und 30 Mark während die tägliche Arbeitszeit bis zu 16 Stunden betragen konnte.

Freizeit mit der Möglichkeit des Ausganges wurde den meisten Dienstmädchen in der Regel nur alle zwei Wochen am Sonntag gewährt, im Schnitt  vier Stunden. So hatten sie kaum eine Gelegenheit außerhalb des eingegrenzten Bereiches des Haushaltes Erfahrungen in der ihnen fremden großstädtischen Umgebung zu sammeln. Man beließ sie in der Verfügbarkeit ihres Arbeitsbereiches. Diese Unerfahrenheit war auch ein wesentlicher Aspekt für den möglichen Gang in die Prostitution. Bei vielen bildete eine Zufallsbekanntschaft auf der Straße, in einem Ballsaal oder Café den Einstieg, da der Herr sich später häufig als Kuppler oder Zuhälter entpuppte oder schließlich die Freundin mit einem Kind alleine ließ. Außerdem vermittelten sogenannte „Stellenvermittlungsbüros“ diese als „Dienstmädchen“ an Kabaretts und Bars weiter, wo sie dann in Wirklichkeit als Animiermädchen und Prostituierte arbeiten mussten. Diese Frauen wurden von der Sittenpolizei ebenfalls als ehemalige Dienstmädchen geführt. Die Dienstmädchen bildeten den höchsten Prozentsatz unter den unehelichen Müttern. Eine Schwangerschaft bedeutete meistens die fristlose Entlassung. So bildeten um 1900 die Dienstbotinnen in Berlin ca. ein Viertel der weiblichen Bevölkerung der Stadt, brachten aber fast  ein Drittel der unehelichen Kinder zur Welt. Von den 1531 Frauen, die sich zwischen 1908 und 1910 in Berlin als Prostituierte registrieren ließen, hatten 636 Kinder. Eine Arbeiterin hingegen, konnte im Falle einer unehelichen Mutterschaft ihre Arbeitsstelle bis kurz vor der Niederkunft behalten und hatte Ansprüche auf gesetzliche Wöchnerinnenunterstützung. Nicht nur Schwangerschaft führte zu Entlassungen. Zur Reisezeit im Sommer, wie auch vor Weihnachten, kam es aus Einsparungsgründen zu massenhaften Kündigungen. So standen zwei mal im Jahr eine große Anzahl von Dienstmädchen stellen- und mittellos auf der Straße und für viele war der einzige Ausweg aus der Obdachlosigkeit die Prostitution.

Mit der Einrichtung der großen Warenhäuser eröffnete sich den Frauen ein neues Feld der Lohnarbeit. Auf dem Gebiet, welches die Statistik unter dem Namen „Handel und Verkehr“ zusammenfasste, hatte die Frauenarbeit von 1882-1895 am stärksten zugenommen, nämlich um 94%. Das Berufsbild der modernen Verkäuferin war bei jungen Frauen, trotz niedriger Löhne und langer Arbeitszeiten, beliebt, da ihm ein weitaus höheres Sozialprestige zukam als der Fabrikarbeit. Die Versprechungen der Warenwelt und ihrer Werbung übten eine starke Anziehungskraft auf die jungen Frauen aus. Das Durchschnittseinkommen einer Berliner Verkäuferin wurde Ende des Jahrhunderts vom „kaufmännischen Hilfsverein für weibliche Angestellte“ auf 58 Mark, in anderen großen Städten Deutschlands, auf nur 27-47 Mark monatlich geschätzt. Die Frauen mussten einen nicht unwesentlichen Teil ihres Gehaltes für ihr Aussehen und ihre Kleidung verwenden, da sie als Angestellte der Kaufhäusern diese repräsentativ zu vertreten hatten. Außerdem stiegen ihre eigenen Ansprüche durch den fortgesetzten Verkehr mit den wohlhabenderen Kreisen, die zur ständigen Kundschaft gehörten, so dass der Lohn bei vielen nicht ausreichte. Für einen Teil von ihnen bot die Prostitution, die sich in der Anfangszeit häufig aus einem Kontakt während ihrer Arbeitszeit als Verkäuferin ergeben hatte, eine Möglichkeit, ihre Ansprüche auf einen höheren Lebensstandard zu verwirklichen.

Der große Anteil von Kellnerinnen an der Prostitution erklärt sich aus der traditionellen Nähe von Animierlokalen zur Prostitution. Im Süden Deutschlands war die Kellnerin als ausgebildeter Frauenberuf anerkannt, aber in Berlin und Hamburg wurden sie fast nur zu Animierzwecken eingestellt. Nach der deutschen Berufsstatistik von 1895 gab es 37.121 Kellnerinnen, von denen knapp 80% ein Bargehalt erhielten, das durch Kost und Logis im Haus des Wirtes ergänzt wurde. Die Hälfte der Frauen die Lohn erhielten, mussten mit einem Einkommen von 10-30 Mark auskommen. Die Kellnerinnen waren im deutschen Kaiserreich aufgrund der niedrigen Löhne überwiegend von Trinkgeldern abhängig und in den Cafes, Varietes und Tingel-Tangel wurde von den Bühnenkünstlerinnen und dem weiblichen Personal geradezu erwartet, dass sie sich den Großteil ihres Einkommens durch Prostitution verdienten.

Bereits vor der Jahrhundertwende waren in den großen Städten eine Vielzahl von Varietés, Kabaretts und Theaterbühnen entstanden und ein Teil der gehobenen Prostituierten rekrutierte sich aus dem Bereich der dort tätigen Künstlerinnen. Die Schauspielerin gehörte im abendländischen Spätmittelalter zu den Geächteten und die Kirche verweigerte ihr ebenso wie der Prostituierten die Sakramente und den Friedhof.  Erst im Laufe des 19.Jh., mit dem veränderten  Selbstverständnis der dramatischen Kunst, gelang es den Beruf der Schauspielerin zu verbürgerlichen und den Schauspielerstand zu emanzipieren. Die Gagen von denen selbst Schauspielerinnen an besseren Bühnen lebten, waren niedrig, außerdem stellten sie meistens nur das Saisoneinkommen dar, von denen die Frauen das ganze Jahr über zu leben hatten. An fast allen Bühnen Deutschlands hatten sie ihre Ausstattung und die Kostüme aus eigener Tasche zahlen – und das zu einer Zeit (ab 1870) wo in den Theatern und Opernhäusern ein extremer Luxus in der Ausstattung auf den Bühnen herrschte. Allerdings hatte die sogenannte Prostitution der Schauspielerinnen einen anderen Charakter als die der Arbeiterinnen und Dienstmädchen. Viele begannen ihre Karriere in den Betten von Theaterdirektoren, Regisseuren und Kritikern und sie hatten oft länger andauernde Verhältnisse die sich nicht nur auf sexuelle Beziehungen beschränkten und ihnen den Status einer Mätresse gaben. Sie waren in der Gesellschaft nicht eindeutig der Verachtung preisgegeben wie die einfache Prostituierte. Die Theaterwelt galt als anrüchig, faszinierte das Bürgertum aber auch, das in weiten Kreisen die Berührung mit der Bühnenwelt suchte. – Frauen die nicht an einer großen Bühne engagiert wurden blieb oft nichts anderes übrig, als ihren Unterhalt bei einem der vielen Varietes, Kabaretts und Tanzbühnen zu verdienen, wo – je nach Etablissement – die Grenzen zur weitergehenden Animation und Prostitution fließender waren. Unter dem Banner des Tanzes wurde für jedes Publikum entsprechende Vergnügungen angeboten. Da gab es „Witwenbälle“, “Bälle für die „reifere Jugend“ und “Strandfeste“, welche Orte des Tanzvergnügens und der Prostitution waren.

Die Opposition gegen den Reglementarismus und das Bordellwesen in Deutschland

Die Sittlichkeitsvereine, die überwiegend mittelständische Protestanten (insbesondere viele Volksschullehrer) angehörten, bildeten eine rechtsgerichtete außerparlamentarische Interessengruppe, die am Ende des 19. Jh. an Bedeutung gewann. Sie waren entschiedene Gegner des staatlichen Bordellwesens. Ihr Anführer,  Pastor Ludwig Weber, sah in der Prostitution die Gefahr der sozialen Unordnung. Die damit einhergehende Unmoral, die Zerstörung der Familie, der Wachstum des städtischen Proletariats, wie auch die sexuelle Emanzipation stellten aus dieser Weltsicht heraus, wichtige Punkte der allgemeinen Bedrohung der Gesellschaft dar. Im gleichem Jahr wie der „Allgemeine Kongress der Deutschen Sittlichkeitsvereine“ – 1888, wurde auch der „Verein Jugendschutz“ in Berlin gegründet. Die Vorsitzende war eine Frau – und dieser Verein bildete sozusagen das weibliche Gegenstück zu den patriarchalen Sittlichkeitsvereinen, wo Frauen in der Regel ausgeschlossen waren. Sie forderten die Abschaffung der staatlich regulierten Bordelle und die Einsperrung aller Prostituierte bei einer Haft von 1- 3 Jahren. Außerdem setzten sie sich für präventive Maßnamen wie die Gründung von Heimen und Vereinen für weibliche Hausangestellte ein. Dieser Verein war in seiner Haltung zwar erzreaktionär, zeigte aber auch eine feministische Tendenz, da er auf dem Recht bestand, dass bürgerliche Frauen in der Öffentlichkeit auftreten und über sexuelle Themen diskutieren konnten. In Opposition zu dieser Haltung standen die sogenannten „neuen Frauenrechtlerinnen“, die gegen Ende der 90er Jahre in Erscheinung traten. Sie waren teilweise Anhängerinnen der Britin Josephine Butler, die in den 90er Jahren eine erfolgreiche Kampagne gegen die Reglementierung in England geführt hatte.

Josephine Butler war eine der namhaften Wortführerinnen der englischen Protestbewegung, die sich u.a. aus Frauenverbänden zusammensetzte, die gegen den 1864 erlassenen „Contagious Diseases Act“ protestierten. Dieser war verabschiedet worden um mit dem Mittel der Zwangsuntersuchung und Zwangsbehandlung von Prostituierten der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten entgegen zuwirken. In diesem Gesetz trat deutlich die viktorianische Doppelmoral zutage, die den Männern das Recht auf Promiskuität gegen Bezahlung einräumte, die Frauen aber den entwürdigenden Kontrollen der Sittenpolizei auslieferte. Josephine Butler, die Prostitution mit weiblicher Sklaverei gleichsetzte, nun aber als eine frühe Verfechterin eines Feminismus, der sich für die Rechte der Prostituierten einsetzte, zu sehen, ist ein Trugschluss. Diese Protestbewegung war durchzogen von einem religiösen Fundamentalismus, der seine wesentliche Aufgabe in einem Kampf gegen die Lockerung der Sexualmoral und der prosperierenden Vergnügungsindustrie sah.

Die neu entstandene Vergnügungskultur gehörte zu den Feindbildern der Sittlichkeitsbewegung, mit der zeittypischen Polemik gegen die Varietes, Kinos, Kneipen und Kabaretts ging die Botschaft einher, dass junge Frauen, die alleine in die Stadt zogen dem Risiko des sexuellen Missbrauchs ausgesetzt waren, solange sie nicht mehr oder noch nicht unter dem Schutz des Vaters oder Ehemanns standen. Josephine Butler war u.a. auch an der Medienkampagne gegen die „White Slavery“ beteiligt. Sie stellte für den Journalisten William Stead den Kontakt zu einer ehemaligen Prostituierten her, die ihrerseits Stead mit einer der Hauptprotagonistinnen der 1885 publizierten Skandalgeschichte bekannt machte – der 13-jährigen Eliza Armstrong. Die durch den Skandal entstandene öffentliche Aufmerksamkeit um den vermeintlichen „internationalen Mädchenhandel“ verschaffte den Frauenverbänden um Josephine Butler eine große, wenn nicht sogar entscheidende Anerkennung.

Jazbinsek, Dietmar,  „Der internationale Mädchenhandel – Biographie eines sozialen Problems“, Schriftenreihe der Forschungsgruppe Metropolenforschung am Wirtschaftszentrum  Berlin für Sozialforschung, 2002

1898 als die Debatte über den „ Lex Heinze“ ihren Höhepunkt hatte, wurde die deutsche Sektion der Abolitionistinnen gegründet. Sie betrachteten die Prostituierten als Opfer und gingen davon aus, dass mit der Abschaffung des Bordellsystems und einen entschiedenen Kampf gegen die Doppelmoral, Frauen nicht mehr länger gezwungen wären sich in der Prostitution zu verdingen. Außerdem setzten sie sich – als eine vorbeugende Maßnahme gegen Geschlechtskrankheiten – für einen allgemeingültigen Maßstab sexueller Enthaltsamkeit ein. Frauen die von Polizei als „der gewerblichen Unzucht nachgehend“ verdächtig aufgegriffen wurden, konnten auf Geschlechtskrankheiten zwangsuntersucht werden, so dass auch Frauen jenseits des Prostitutionsgewerbes Bekanntschaft mit dieser entwürdigenden  Behandlung machten. Die Abschaffung des Paragraphen § 361 StGB, der diese Vorgehensweise ermöglichte, wurde eine der zentralen Forderungen der Frauenbewegung hinsichtlich der „Prostitutionsfrage“. Die Gräfin Gertrud Guillaume-Schalk mit dem „Deutschen Kulturbund“ und die „Internationale Abolitionistische Föderation“ waren in dieser Hinsicht aktiv, sie hatten auf parlamentarischer Ebene allerdings keinen  Erfolg. Bereits im Jahr 1905, dem Erscheinungsjahr der „Tagebuch einer Verlorenen“, begann sich das politische Klima  über die öffentliche Debatte zum Thema Prostitution zu verändern.

Im Jahr 1905 wurde in Deutschland von der Schriftstellerin Magarethe Böhme das „Tagebuch einer Verlorenen“ veröffentlicht. Diese Tagebuchaufzeichnungen beschrieben scheinbar autographisch den Lebensweg einer Frau aus bürgerlichen Verhältnissen, die mit ihrer Familie bricht und in Hamburg eine Luxuskurtisane der Oberschicht wird, – bis sie dann als lebensmüde Hure an Tuberkulose stirbt. Dieses Tagebuch war in Wirklichkeit ein Roman der Autorin Böhme, die es in dieser Zeit als zu unsicher empfand es als ihr eigenes Werk auszugeben. Es  löste im sittenstrengen, wilhelminischen Deutschland öffentliche Debatten zu diesem Thema aus. In der Weimarer Republik wurde das „Tagebuch“ unter der Regie von G.W. Pabst mit Louise Brooks in der Hauptrolle verfilmt. Die Lizenz die der Film im August 1929 für den kommerziellen Verleih erhielt, wurde allerdings schon im Dezember gleichen Jahres von der Filmprüfstelle Berlin wiederrufen, da es zu massiven Protesten seitens kirchlicher Organisationen und Frauenvereinen gekommen war.

Die feministische Bewegung, bzw. deren radikaler Flügel um die Person der Sexualreformerin Helene Stöcker nahmen immer mehr eine liberale Haltung zum Thema Sexualität ein. 1908 initiierten sie eine Kampagne für die Abschaffung des Paragraphen 218 und für die Legalisierung der Abtreibung, sowie zur Anerkennung gleicher Rechte für unverheirateter Mütter – und das Frauen ebenso wie Männer ein Recht auf sexuelle Erfüllung haben. Vielen damaligen Frauenrechtlerinnen gingen diese Positionen allerdings zu weit – so wurde bei der Generalversammlung des Bundes Deutscher Frauenvereine (1908) der Versuch, die Kampagne gegen den 218§ zur allgemeinen Forderung aller Frauenvereine zu erheben, abgewiesen- und die radikalen Feministinnen wurden im Laufe der nächsten Jahre innerhalb der Bewegung immer mehr an den Rand gedrängt.

Unter dem wachsenden Einfluss des wissenschaftlichen Diskurses über Fragen der Eugenik und des Sozialdarwinismus auf die politische Kultur, kam es auch bei den Abolitionistinnen zu einer Umorientierung. Sie begannen sich ab 1910 für eine Art „Neo-Reglementarismus“ einzusetzen, der dem Standpunkt der Gesellschaft zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten (gegründet 1902) nahe kam. Sie kämpften nicht mehr für die Abschaffung der Polizeiregulation im Namen der sexuellen Gleichheit, sondern für die Einführung von Gefängnisstrafen für jeden, der wissentlich mit einer sexuell übertragbaren Krankheit infiziert war und trotzdem Geschlechtsverkehr hatte. Dies implizierte eine stärkere Polizeikontrolle der Prostitution. Mit diesen Forderungen entfernten sich die deutschen Abolitionistinnen immer mehr von Geschlechtsgenossinnen in den anderen europäischen Ländern.

Eine tragende Kraft der Opposition gegen den Reglementarismus und das Bordellwesen stellte die Sozialdemokratie dar, in der ein Großteil der Arbeiterschaft organisiert war und die sich auch zunehmend für frauenrechtlerische Positionen öffnete. Die Sozialdemokraten definierte die Prostitution vereinfacht, wie auch im kommunistischen Manifest, als eine besondere Form gesellschaftlicher Ausbeutung bei der das Proletariat das Angebot stellte und die Nachfrage von der Bourgeoisie bestimmt wurde. Das Bordellwesen wurde oft zum Anlass genommen um im Reichstag die Ursachen der Prostitution und die damit verbundene Politik der Ausbeutung und die herrschende Doppelmoral zu thematisieren.

Die Gesetzgebung in der Weimarer Republik

Nach dem 1. Weltkrieg und den stattgefundenen politischen Umwälzungen erlangte die SPD großen Einfluss in  Landesparlamenten und Regierung. Zum ersten Mal wurden Frauen als offizielle politische Vertreter ins Parlament und in die Bürgerschaften gewählt. Damit gewannen diejenigen politischen Kreise an Einfluss, die jahrelang das Bordellsystem entschieden bekämpft hatten. Mit der Etablierung der Weimarer Republik forderte 1921 der Reichstag alle im Deutschen Reich noch bestehenden Bordelle zu schließen und die Kasernierung zu beenden. In Städten wie Hamburg, in denen Bordelle in großer Anzahl existierten, kam es mit der Schließung zu einer weitgehenden Verschlechterung des Straßenbildes, da die vormals bordellierten Frauen ihr Gewerbe nun von der Straße ausgehend betrieben.

Im Oktober 1927 trat das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in Kraft, mit dem die gewerbsmäßige Prostitution straffrei wurde. Ausgenommen waren Orte in der Nähe von Schulen und Kirchen, sowie Wohnungen in denen Kinder zwischen 3-18 Jahren lebten. Mit diesem Gesetz hatte sich der Schwerpunkt der Bekämpfung der Prostitution von der sittenpolizeilichen auf eine gesundheitliche Kontrolle  mit sozial-fürsorgerischer Betreuung verlagert. Die Kuppeleiparagraphen §180 und §181 StGB blieben im Inhalt gleich, demnach war der Unterhalt eines Bordells oder bordellartigen Betriebes strafbar. Mit diesem Gesetz waren alle Männer, wie Frauen verpflichtet sich beim Vorliegen einer Geschlechtskrankheit behandeln zu lassen. Prostituierte mussten sich weiterhin einer regelmäßigen Gesundheitskontrolle unterziehen, die nicht mehr unter der Aufsicht der Sittenpolizei, sondern unter der Gesundheitsbehörde stand. Die Gesundheitsbehörde konnte nach der neuen Gesetzeslage von allen Personen, die verdächtigt wurden geschlechtskrank zu sein und diese weiterzuverbreiten, die Vorlage eines Gesundheitszeugnisses verlangen.

Während in den Akten der Sittenpolizei nur die Frauen auftauchten, die der gewerbsmäßigen Prostitution nachgingen oder dessen verdächtigt wurden, führte die Gesundheitsbehörde weitergehend Listen über sämtliche bekannten Personen mit „häufig wechselnden Geschlechtsverkehr (hwG)“. Diese Datenerhebungen standen bereits in der Weimarer Republik teilweise unter dem Einfluss der eugenischen und sozialdarwinistischen Diskussionen um Fragen der Kriminalität zu denen die Prostitution als Teilgebiet zugerechnet wurde. Während Mitte des 19. Jh. von Ave`-Lallement die kriminelle Unterwelt als ein Produkt rassischer  Einflüsse dargestellt wurde, werden später diese Einflüsse nicht nur bei Juden und Zigeunern, sondern unter dem Postulat der „Rassenhygiene“ verallgemeinernd bei „schädlichen Erbfaktoren“ gesucht. Die Sozialforscher und Kriminalanthropologen dieser Zeit machten sich daran, genau diese Faktoren bei Kriminellen, Prostituierten, bzw. bei der gesamten Unterschicht zu diagnostizieren und zu bestimmen. Das juristische Modell von Kriminalität machte immer stärker einem medizinischen und eugenischen Modell Platz.

(Das Thema Prostitution und Faschismus erscheint (wenn auch kurz) im Kapitel St. Pauli, welches sich ausführlich mit der Geschichte der Prostitution im Hamburger Raum beschäftigt.

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