Bei der Reichstagswahl 1928 stimmten in St. Pauli 37% für die SPD, 30% für die KPD und 3% für die Nazis. Die Hamburger Bürgerschaftswahl von 1931 brachte der KPD ihr bestes Ergebnis in der Weimarer Republik: 169.000 Stimmen – 21,9%. Da der politische Kampf aufgrund der Erfahrungen nach dem 1. Weltkrieg und der Vorgaben der Komintern weiterhin hauptsächlich gegen die SPD gerichtet blieb, war ein gemeinsames politisches Konzept aller antifaschistischen Kräfte so gut wie unmöglich. 1933 stimmten 24% für die SPD, 32% für die KPD und 35% für die Nazis.
1930 hatte die Polizei in Hamburg 209 Versammlungen und Demonstrationen zu überwachen. 1931 waren es bereits 1341 Versammlungen und 706 Demonstrationen. 1932 wurden 5920 politische Veranstaltungen überwacht, bzw. begleitet und im Zusammenhang mit Demonstrationen, Saalschlachten und Straßenunruhen waren 2936 Festnahmen wegen Körperverletzung erfolgt. 1931 wurde Ernst Henning, ein KPD-Abgeordneter der Hamburger Bürgerschaft von Mitgliedern der SA erschossen. 4 Tage später kam es zu Schlägereien auf der Bürgerschaftssitzung in dessen Folge mehrere Mitglieder der nationalsozialistischen Fraktion zusammengeschlagen wurden, woraufhin alle 10 KPD-Abgeordnete einen Monat von Parlamentssitzungen ausgeschlossen wurden. Am Tag der Beerdigung kam es in Barmbek zu schweren Unruhen bei denen die Polizei von der Schusswaffe Gebrauch machte. Die politischen Straßenkämpfe gipfelten am 17. Juni 1932 im sogenannten „Altonaer Blutsonntag“ An diesem Tag wollten die Nazis eine ca. 7000 Mann starke Demonstration durch die traditionell kommunistisch und sozialdemokratisch geprägten Stadtteile Altona und St. Pauli durchführen. Im Arbeiterrevier nahe der Grenze zu St.Pauli kam es zu schweren Auseinandersetzungen bei denen auch Schusswaffen eingesetzt wurden, woraufhin die Polizei ihrerseits unverhältnismäßig von der Schusswaffe Gebrauch machte. Resultat: 60 Verletzte, 18 Tote, darunter zwei SA-Männer, drei Kommunisten und 13 Passanten. Diese bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen lieferten dem Reichskanzler Franz von Papen den Vorwand, die von den Sozialdemokraten mitgebildete preußische Regierung aufzulösen, womit der NSDAP politisch der Weg frei gemacht wurde.
Die Sozialdemokratie in Deutschland des 19. Jh. und jungen 20. Jh. definierten die Prostitution, wie auch im kommunistischen Manifest, als eine besondere Form gesellschaftlicher Ausbeutung bei der das Proletariat das Angebot stellte und die Nachfrage von der Bourgeoisie bestimmt wurde. Diese vereinfachende Perspektive des Klassenkampfes wurde von dem französischen Historiker Alain Corbin (geb. 1936) und dem deutschen Schriftsteller Hans Ostwald (1873-1940) differenzierter dargestellt. Sie wiesen nach, dass die Nachfrage nach Prostituierten auch in der Arbeiterschaft bestand; bei ledigen männlichen Arbeitern, Wandergesellen, Seeleuten, Soldaten und jungen Leuten. Die beiden sozialistischen Theoretiker Marx und Engels nahmen die damalige Vorstellung von der kriminellen Unterwelt auf und fügten sie unter der Begriffsbildung „Lumpenproletariat“ in ihr theoretisches Bezugssystem ein. Erst nach den Zeiten der Pariser Kommune von 1871 begannen anarchistische Theoretiker wie Michail Bakunin,- und auf der anderen Seite die Polizei – die Kriminalität als Verbündete der Revolution zu betrachten. In einer Schrift um die Jahrhundertwende, nach Abschaffung der Sozialistengesetze, wird das Schreckensgespenst eines gemeinsamen Umsturzes von Sozialisten, Zuhältern und Kommunisten entworfen:
„Prostitution und Zuhälterthum in der jetzigen Lebensweise, in der jetzigen Regelung ihrer Verhältnisse sind Vorstufe und Durchgangsstufe zum gemeinen Verbrechen. (…) Wie sehr aber Prostitution und Verbrecherthum in Berlin mit einander verquickt sind, das kann man daran beurteilen, dass beide dieselbe Sprache sprechen, dieselbe ursprünglich aus dem Hebräischen stammende, theils verdeutschte, theils mit deutschen Zusätzen versehene rühmlichst bekannte Berliner Verbrechersprache. Das ist die sociale Gefahr, von der wir sprachen. Daneben steht noch eine social-politische. Denn wenn einmal eine Zeit der schweren Noth hereinbrechen sollte, dann werden wir die ungezügelte Prostitution, diese tausende von vagabondierenden Zuhältern auf der Seite der Umstürzler finden, und sie werden fürchterliche Gegner sein, nicht wegen ihrer Tapferkeit, wohl aber wegen ihrer Blutgier und Verthierung, und noch weit mehr wegen der maßlosen Aufhetzung, mit der sie sich allen Kreisen aufdrängen werden, welche ihnen irgendwie zugänglich sind.“
Aus dem Pamphlet einer Gruppe „Hamburger Männer“ um die Jahrhundertwende, Zitat aus: Evans Richard J., 1997 : 271
Im Hamburger Echo, dem Kampfblatt der Sozialdemokraten, die kulturpolitisch überwiegend auf das bürgerliche Lager ausgerichtet waren, findet sich zwei Jahrzehnte später ein kleiner Artikel aus dem hervorgeht, dass die Kommunisten und die linksradikale USP sich im Rotlichtmilieu engagierten. So wurde im Zuge der sexualreformerischen Bestrebungen dieser Jahre, 1920 eine Interessenvertretung der Prostituierten mit dem Publikationsorgan „Der Pranger“ gegründet.
„Wenn gestern, angeblich auf Anregung der Prostituierten eine von Ehrenfried Wagner (USP) und der Kommunistin Guttmann einberufene Versammlung ( es waren etwa 100 Vertreter von öffentlichen Häusern anwesend) der unter ärztlicher Sittenkontrolle stehenden weiblichen Personen stattfand. So geschah dies, um die wirtschaftliche und soziale Not der in diesem „Beruf“ stehenden Personen zu mildern gegen die Schikanen der Polizeiorgane und die Ausbeutung der Bordellwirte. Man stellte verschiedene Forderungen auf, wie Tarife für das Logis bei ganzer und halber Miete, Beseitigung des Bierzwanges und des Türanzeige, Aufhebung des Verbots zum Theaterbesuch und des Betretens gewisser Straßen, bessere Behandlung in Krankenhäusern, u.v.m.. Zur Durchsetzung dieser Forderungen will man sich in einer Organisation zusammenfinden, und letztere durch kleine monatliche Beiträge finanzieren. Jede Straße wählt eine Vertrauensperson, die die Beschwerden der Organisation unterbreitet, welche dann zunächst versuchen wird durch gütliche Verhandlungen mit der Polizeibehörde oder den Bordellwirten aus der Welt zu schaffen. Sofern jedoch dadurch keine Abhilfe erreicht wird, soll jeder einzelne Fall von Schikane oder Ausbeutung in einem besonderen Organ, „Der Pranger“ publiziert werden.“
Hamburger Echo/Nr.12 Ab/8.1.1920
Der „Pranger“ wurde bereits am 20.2.1920 verboten. Das „Hamburger Echo“ (HE/85Mo/20.2.20) schreibt hierzu: “…Dieses Blatt “Der Pranger” aber, hat in geradezu skandalöser Weise die betont schmutzigsten Dinge ins Volk getragen, hat bewusst auf die niedrigsten Triebe eingewirkt. (…)
Das Verbot ist ohne weiteres gerechtfertigt, mit menschlich erstrebenswerten Zielen, mit sozialistisch-kommunistischer Gesinnung hat, was in diesem Dreckfetzen stand, nichts gemein.“
Ehrenfried Wagner war der leitende Redakteur der USP-nahen Hamburger Volkszeitung und musste im Herbst 1919 wegen seiner kritischen Artikel zum Reichswehreinsatz im Juli 1919 für 6 Wochen ins Gefängnis. Danach gründete er mit Ketty Gutmann den „Pranger“ als Gewerkschaftsorgan der Hamburg-Altonaer Kontrollmädchen. In der Publikation wurde weitergehend die freie Liebe und die Sexualrevolution propagiert. Beide gehörten 1921 zu den 17 Mitgliedern der kommunistischen Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft. Jahre später wurde Ketty Gutmann wegen ihrer Broschüre „Los von Moskau!“ als „Antiautoritäre“ aus der KPD ausgeschlossen.
Im gleichem Jahr heißt es bei dem Artikel „Zum Kampfe gegen die Bordelle“:
„…Es handelt sich hier um eine große soziale Tat, für die unsere Partei des Dankes aller derjenigen Männer und Frauen gewiß sein kann, die den Kampf gegen die gewerbsmäßige Unzucht im neuzeitlichen Geiste führen. Es ist kein Zufall, dass auch die russische Sowjetregierung nach dem Berichte von Goldschmidt in seinem Moskauer Tagebuch vom Mai dieses Jahres das Bordellunwesen in Russland rücksichtslos ausgerottet hat, und mögen wir auch sonst durchaus nicht mit allen Sowjetmethoden aus wohlberechtigten Gründen übereinstimmen, in diesem Punkte müssen wir das Vorgehen der Bolschewisten anerkennen und uns zum Vorbild nehmen“
Hamburger Echo, 429Ab, vom 14.9.1920
Wie aus den Texten und speziellen Formulierungen der letzten Artikelschreiber hervorgeht, gab es im Gegensatz zur Darstellung konservativer Kreise keineswegs eine Allianz zwischen Prostitution und linksgerichteter Politik, oft waren sie vielmehr erbitterte Gegner. Die Sozialdemokratie nahm das Hamburger Bordellwesen oft zum Anlass um gegen die Prostitution zu Felde zu ziehen und um im Reichstag gegen die Politik der Ausbeutung und die herrschende Doppelmoral zu polemisieren, wobei die Interessenlage der Prostituierten nicht berücksichtigt wurde. Obwohl davon ausgegangen werden kann, dass vor allem in den Gängevierteln die sozialen Milieus der Arbeiter, Gewerbetreibenden und der Prostituierten vernetzt waren.
Gegner des Hamburger Bordellsystems und auch oft der Sittenpolizei waren verschiedene Frauenvereine, vor allem der 1899 gegründete „ Hamburger-Altonaer-Zweigverein der Internationalen Abolitionistischen Föderation“, die seit 1911 bestehende, religiös geprägte Mitternachtsmission und die Sozialdemokratie. Der sozialdemokratische Abgeordnete für den Hamburger Wahlkreis August Bebel, brachte das Hamburgische Bordellwesen und den Frauenhandel wiederholt im Reichstag zur Sprache. 1895 hatte dies die Ausweisung zahlreicher Ausländerinnen aus den Bordellen zur Folge. Nach dem 1. Weltkrieg und den stattgefundenen politischen Umwälzungen erlangte die sozialdemokratische Partei großen Einfluss im Hamburger Parlament und Regierung. Zum ersten Mal zogen Frauen in die Hamburger Bürgerschaft ein. Damit gewannen diejenigen politischen Kreise an Einfluss, die jahrelang das Bordellsystem entschieden bekämpft hatten.
Ebeling Helmut, 1980, „Schwarze Chronik einer Weltstadt – Hamburgs Kriminalgeschichte 1919-1945“, Ernst Kabel Verlag,
Evans Richard J, 1997, „Szenen aus der deutschen Unterwelt“, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
Pelc Ortwin, 2002, „Hamburg, die Stadt im 20.Jh.“, Convent-Verlag, Museum f. Hamburgerische Geschichte
Sigmund Monika, Renate Kühne, Gunshild Ohl-Hinz, Ulrike Meyer, 1996, „ Man versuchte längs zu kommen und man lebt ja noch – Frauen-Alltag in St. Pauli in Kriegs- und Nachkriegszeit“, St. Pauli-Archiv, Druckerei in St.Pauli, Hamburg
Urban Alfred, 1927, „Staat und Prostitution in Hamburg“, Verlag Conrad Behre, Hamburg
Die Schließung der Bordelle – Gesetzesnovelle und Datenerfassung
Mit der Etablierung der Weimarer Republik forderte 1921 der Reichstag alle im Deutschen Reich noch bestehenden Bordelle zu schließen und die Kasernierung zu beenden. Auch in Hamburg empfahl eine extra dazu eingesetzte Kommission die Schließung der Bordelle. In einem Bericht des Bürgerausschusses aus dem Jahr 1921 zum hamburgischen Prostitutionswesens wurde festgestellt, dass sich nur ein geringer Teil der gewerbsmäßigen Unzucht in den Bordellen vollziehe, der Polizei aber mehr als 1000 Kupplerquartiere bekannt seien, vor allem in den Straßen rund um den Hauptbahnhof und in St. Pauli. Im gleichen Jahr wurde dann in der Bürgerschaft ein Antrag angenommen, dass der Senat zu ersuchen sei keine Neueinschreibungen unter Kontrolle stehender Prostituierter mehr zu genehmigen und die Bordelle baldmöglichst polizeilich schließen zu lassen. Im Juni 1922 wurden dann die letzten Bordelle offiziell geschlossen. Die Bordellstraßen wurden umbenannt und die freigewordenen Bordelle zur normalen Vermietung freigegeben, einige hingegen wurden zu „Restaurants“ und „Pensionaten“ umbenannt.
Nach einer Statistik der Hamburger Sittenpolizei aus dem Jahr 1920 gab es insgesamt 116 Häuser mit über 800 Zimmern in denen durchschnittlich 550 bis 600 “Insassen” zugegen waren. Der Wert der Hamburger Bordell-Häuser wurde vor dem ersten Weltkrieg auf 6 Millionen Reichsmark geschätzt. In Altona gab es die Bordellstraßen Peterstraße und Kleine Marienstraße mit insgesamt 26 Häusern und 260 Insassinnen. Nach einer Umfrage des Frankfurter Statistischen Amtes aus dem Jahr 1919 wurde die Zahl der geheimen Prostituierten in Altona auf 500 geschätzt.
Die unter strenger Kontrolle stehenden Prostituierten verteilten sich über folgende Bordelle:
Brunnenstraße 2 Häuser – 7 Zimmer
Heinrichstraße 21 Häuser – 117 Zimmer
Hinter der Markthalle 4 Häuser – 20 Zimmer
Klefekerstraße 16 Häuser – 130 Zimmer
Neue Springeltwiete 11 Häuser – 119 Zimmer
Schützenstraße 14 Häuser – 138 Zimmer
Schwiegerstraße 17 Häuser – 80 Zimmer
Ulricusstraße 31 Häuser – 210 Zimmer
Quelle: Knack U.B., 1921: 9
Der Senat schloss als erstes die Bordelle in den Straßen „Hinter der Markthalle“ und einen Teil der Häuser in der Klefekernstraße und in der zweiten Brunnenstraße. Bereits einen Monat später, im August `21, beschwerten sich die Geschäftsleute der Klefekernstr., der Wexstr., Brüderstr. und des Trampgangs über die Zustände im Inneren der Neustadt, da die vormals bordellierten Frauen ihr Geschäft nun auf der Straße betrieben und die Straßen das Bild „öffentlicher Bordellstraßen “ angenommen hätten. Frauen von Anwohnern wurden von der männlichen Klientel der Prostituierten belästigt und die Kundschaft der regulären Läden blieb zunehmend aus. Um die Schließung weiterer Bordelle zu verhindern organisierten die Geschäftsleute im September `21 eine öffentliche Versammlung zu der ca. 500 Ladenbesitzer, Handwerker, Zimmervermieter und Prostituierte erschienen. Während die Ladenbesitzer eine Verschlechterung des Straßenbildes und Umsatzeinbußen befürchteten, war der Protest der „Kontrollmädchen“ von anderen Sorgen getragen. Während der Nachkriegszeit herrschte eine extreme Wohnungsnot und viele Prostituierte mussten damit rechnen entweder kein neues Zimmer zu finden oder völlig überzogene Mieten zahlen zu müssen. 153 Frauen der Bordelle der Schwiegerstraße und der Ulrikusstraße, die zum Dezember 1921 geschlossen werden sollten, richteten Petitionen an den Senat um den Termin der Schließung zu verschieben, da sie sonst befürchteten zum Winter mittel- und obdachlos zu werden. Sie betonten ihrerseits, dass sie in den Bordellen weitaus preiswerter leben konnten als außerhalb in privaten Wohnungen, da die Vermieter sie entweder ablehnten oder extrem überhöhte Mietpreise verlangten. Die Häuser in der Schwieger- und Ulrikusstraße wurden trotzdem zum Dezember `21 geschlossen, während man bei den anderen Bordellen den Termin wegen der Wohnungsnot hinauszögerte. Im Juli 1922 wurden auf Beschluss der Bürgerschaft und des Senats und unter dem Druck der Öffentlichkeit – gegen den Willen der Polizeibehörde, des Gesundheitsamtes und des Wohnungskommissars – alle Bordelle in der Schützen, Heinrich und Klefekernstraße , sowie der Springeltwiete geschlossen.
Mit der Schließung wurden die ehemaligen Bordellstraßen gleichzeitig umbenannt. Aus der Schwiegerstraße wurde der Kalkhof, aus der Ulrikusstr. die Winkelstraße, die Schützenstr. wurde zum Johanniswall, die Klefekernstr. zur Mauerstraße und die Heinrichstraße zur Herbertstraße. Die Vorschriften der Sittenpolizei verloren mit der Schließung der Bordelle ihre Gültigkeit, da die Frauen somit keiner Wohnungsbeschränkung mehr unterlagen. Es war ihnen von da an erlaubt Cafes, Restaurants, Theater und den Zirkus zu besuchen, Während ihnen vorher fast alle Hauptverkehrsstraßen verboten waren, konnten sie jetzt die Straßen, mit Ausnahme des Jungfernstiegs und den Straßen in der Umgebung des Hauptbahnhofes, betreten. Außerdem wurden die medizinischen Untersuchungseinrichtungen erweitert, da die Untersuchungen nicht mehr in den Bordellen durchgeführt werden konnten. Im Juli 1921 hatten 1600 Frauen unter sittenpolizeilicher Kontrolle gestanden, davon hatten 560 Frauen in einem der 800 Zimmer in den 114 Bordellen in den 8 von der Polizei freigegebenen Bordellstraßen gewohnt. Die anderen 1040 Frauen hatten bereits in Privatwohnungen, verstreut im Stadtgebiet, gelebt. Nach der Auflösung der Bordelle mussten sich die 560 Frauen privat Zimmer suchen und gingen ihrem Geschäft in der Regel auf der Straße nach, wobei sich eine Konzentration in den Stadtteilen St. Georg, St. Pauli und dem Gängeviertel zeigte, was die Möglichkeiten der Zimmervermietung, vorhandene Absteigen und der Straßenprostitution betraf. 1925 kamen ca. 250 Prostituierte auf 1100 Familien im Gängeviertel.
Die Bevölkerung des Gängeviertels ist sehr gemischt. Zu einem geringen Teil ist noch eine bodenständige Arbeiterbevölkerung vorhanden, die, am Hafen beschäftigt, von alters her dort wohnt und infolgedessen mit den bescheidenen Wohnverhältnissen zufrieden ist, da sie die Vorteile des kurzen Weges zur Arbeitsstelle in Rechnung zieht. Diese Bevölkerungsschicht nimmt jedoch mehr und mehr ab, da sie von anderen, weniger soliden verdrängt wird und nach dem Ausbau der Verkehrsanlagen die Möglichkeit hat, bessere Wohnquartiere in den äußeren Stadtteilen zu beziehen. Was übrig bleibt, ist eine äußerst zahlungsschwache Mieterschicht, die sich in vielen Fällen durch Beherbergung der nach Aufhebung der Bordelle heimlosen Prostitution einen Nebenerwerb mancherlei Art verschafft. Diese Entwicklung ist so stark geworden, dass ein Teil der Gänge ganz den äußeren Eindruck minderwertiger Bordellstraßen macht. (…) Eine weitere Schicht der Bewohnerschaft bilden die zugewanderten Familien, die die heute erforderliche Wartezeit bis zur Beschaffung einer Wohnung durch das Wohnungsamt noch nicht erfüllt haben und nun in diesen Wohnungen, die von den Hamburger Wohnungssuchenden verschmäht werden und zur freien Vermietung kommen, unterzukriechen. Hier spielt das Gängeviertel also die Rolle eines fragwürdigen Privataspiz für Obdachlose. Nehmen wir hierzu noch die Tatsache, dass das winkelige und dunkle Gängeviertel willkommener Unterschlupf für die Verbrecherwelt bietet, so haben wir das Nachtstück einer Großstadtentwicklung vor Augen, wie wir es uns trüber kaum denken können. Es wird eine Aufgabe der nächsten Zukunft sein, auch diesen letzten Teil des Sanierungsprogramms vom Jahre 1897 möglichst schnell zu erledigen. Die Lösung der Frage, wo die sozial äußerst schwierige Bewohnerschaft unterzubringen ist, wird den Staat vor soziale Aufgaben stellen, wie er sie in diesem Umfange noch nicht zu lösen hatte, da Gesetzgebung und allgemeine Anschauung heute anders sind als bei Inangriffnahme des Sanierungswerkes und es sich hier um Beseitigung der letzten Insel und Zufluchtstätte meist asozialer Elemente im Herzen der Großstadt handelt.“
Quelle: Hamburger Correspondent Nr.1 1.1.1928, „Das Hamburger Gängeviertel – Ein sozialer Fremdkörper in der Millionenstadt“ „Ein fragwürdiges Wohnquartier“ von Oberbaurat Peters
Nachdem der Zwang in einem Bordell zu wohnen nicht mehr bestand, ließen sich immer mehr Frauen bei der Sittenpolizei registrieren. Im Juli 1921 waren 560 Frauen eingeschrieben, 1923 bereits 1300 und 1924 – 2000, bis sie mit 2400 registrierten Frauen anfangs 1926 ihren „offiziellen“ Höchststand erreichte. Die Zahl der männlichen Prostituierten wurde auf 1500 geschätzt. 1923 griff die Sittenpolizei 4.078 Männer auf, von denen 1512 an einer Geschlechtskrankheit litten. 1924 wurden 3554 Männer aufgegriffen von denen 1593 erkrankt waren. Für männliche Prostituierte gab es keine gesetzlichen Bestimmungen. Sie wurden nicht in Listen registriert und mussten sich nicht regelmäßigen Gesundheitskontrollen unterziehen. Das sich innerhalb von 4 Jahren die Zahl der weiblichen Prostituierten um das vierfache erhöht hat erklärt sich aus den Umstand, dass viele der Frauen, die vorher der heimlichen Prostitution nachgegangen waren, sich nun registrieren ließen. Andererseits war Hamburg während der Inflationsjahre, als Messe- und Konferenzstadt und als Hafenstadt, mit vielen Ausländern und Seeleuten, die mit harter, inflationsresistenter Währung zahlten, auch Anziehungspunkt für viele Frauen aus dem Umland und anderen deutschen Regionen. Insgesamt 70% der Kontrollmädchen sollen von auswärts zugezogen sein.
„Man wird diese Zahl sicher für viel zu niedrig halten, wenn man einmal mit aufmerksamen Auge die Verhältnisse geprüft hat. Doch bei dem jetzigen System des frei-herum-laufen-lassens ist eine Ueberwachung und statistische Erfassung sämtlicher Prostituierten kaum möglich. (…) Aber reine Bahn und moralische Gesundung kann man nur dann schaffen, wenn auch die Fäulniserreger beseitigt werden. Fürsorgerische Maßnahmen werden gegenüber dem Dirnenunwesen nur zu einem kleinen Teil helfen. Verschiedene Kreise wünschen Zusammenarbeit des Pflegeamts mit dem Gericht und dem Arbeitshaus, andere wieder fordern eine verstärkte Straßenpolizei die dem Dirnenunwesen steuern soll.“
(Hamburger Correspondent/Nr.232Ab, S.4, 20.5.1925) „Die Prostitution in Hamburg“
Aufgrund der zunehmenden Verschlechterung des Straßenbildes kam es im März 1925, unter der Leitung des evangelischen Landesverbandes der Inneren Mission, in den Räumen von Saegebiel zu einer Veranstaltung zum Thema „Prostitution und das Wohnungselend“ mit mehreren tausend Teilnehmern. Im gleichen Jahr setzte der Senat eine Kommission zur Prüfung der Frage der Neuregelung des Prostitutionswesens in Hamburg ein Auch in der Bürgerschaft wurde die Prostitutionsfrage erneut zum Thema. Die Mehrheit der Abgeordneten sprach sich, wie schon 1921, gegen das System der Kasernierung, polizeilichen Überwachung und Bordellierung aus und befürwortete stattdessen gesundheitliche und fürsorgerische Maßnahmen. Ein Maßnahmenkatalog der Senatskommission setzte vordringlich darauf die Durchmischung von Prostituierten und „normaler“ Bevölkerung entgegenzuwirken, vor allem dort wo Familien und Kinder betroffen waren. Dabei unterschied die Sozialbehörde 3 Kategorien von Straßen: Straßen aus denen normale Haushalte vollständig ausquartiert werden sollten, um sie Prostituierten und Zuhältern zu überlassen. Straßen aus denen Familien mit Kindern ausquartiert werden sollten, kinderlosen Ehepaaren aber weiterhin das Wohnen erlaubt blieb und Straßen aus denen die Prostitution vollständig verdrängt werden sollte. Das Ziel war es alle Familien mit Kindern aus dem „sittlichkeitsgefährdeten Milieu“ umzusiedeln. Viele der Familien waren allerdings zu einem Umzug nicht bereit. Die soziale und berufliche Bindung an den Stadtteil und die niedrigen Mieten waren einige der Gründe, außerdem hatte sich das traditionelle Schläfgängertum, welches sich inzwischen immer mehr zur Zimmervermietung an Prostituierte gewandelt hatte, zu einer wichtigen Einnahmequelle vieler Familien entwickelt.
Nach dem §361 Nr.6 StGB nahm die Sittenpolizei Razzien vor allem in den Vierteln St. Pauli, St. Georg und in der Gegend um die Steinstr. und in der Neustadt vor. Im Jahr 1924 nahm die Polizei insgesamt 15.232 Frauen fest, davon 7.960 registrierte Prostituierte und 7.272 Frauen, die der heimlichen Prostitution verdächtigt wurden. Die Frauen wurden zunächst zur nächstliegenden Polizeiwache gebracht, wo eine Vernehmung durch die Sittenpolizei erfolgte. Wenn sie sich nicht ausweisen konnten oder der Verdacht der Prostitution oder auf eine Geschlechtskrankheit bestand, blieben sie in Arrest und wurden am folgenden Tag im Stadthaus zwangsweise auf Geschlechtskrankheiten untersucht und der Fürsorge des Pflegeamtes übergeben. Statt eine Strafe im Gefängnis anzutreten, hatten die Frauen die Möglichkeit sich „freiwillig“ der Aufsicht des Pflegeamtes zu unterstellen, wo dann, nach dem sogenannten „Bielefelder System“, die Resozialisierung und nicht die Bestrafung im Vordergrund stand. Mit dem Bielefelder System wurde die sittenpolizeiliche Kontrolle durch eine „Aufsicht und Erziehung“ der Frauen durch das Pflegeamt abgelöst. Die Kontrollbücher der Sittenpolizei wurden abgeschafft und 1926 wurden die Frauen aus der sittenpolizeilichen Kontrolle entlassen. Bei Frauen, die keinen Willen zeigten zu einem „gesitteten Lebenswandel“ zurückzukehren oder sich der Aufsicht entzogen, wurde die Haftstrafe vollzogen. Mitte der 20er Jahre verbüßten ca. 2000-2500 Frauen eine Strafe nach §361 Nr.6 StGB in den Hamburger Haftanstalten.
Dem Pflegeamt, dem in den 20er Jahren jährlich ca. 1200 „Pfleglinge“ von der Sittenpolizei und den Krankenhausabteilungen für Geschlechtskranke überwiesen wurden, standen eine Reihe von Häusern zur Verfügung. Nachdem die Frauen unter Aufsicht gestellt waren, entschieden die Fürsorgerinnen ob sie zurück zu ihrer Familie geschickt wurden, eine Arbeit vermittelt bekamen oder im Arbeitshaus 6 Monate zu arbeiten hatten. Das 1921 gegründete Pflegeheim in der Martinistraße war eines der moderateren Einrichtungen. Es wurde neben der Unterbringung, Verpflegung und Arbeitsvermittlung auch für ein kulturelles Begleitprogramm gesorgt, welches von Kinobesuchen, Singabenden bis zu Ausflügen reichte. Eine weitere Einrichtung war der „Louisenhof“ im sogenannten Versorgungsheim in Farmsen. Es bestand aus zwei Baracken für bis zu 20 Frauen. Das ganze Areal war mit Stacheldraht eingezäunt und die Frauen waren dort unter strenge Aufsicht gestellt, sie durften sich auf dem Gelände nicht frei bewegen, es gab kaum Besuchsmöglichkeiten und persönliche Briefe unterlagen der Zensur. Die Frauen hatten dort einen mindestens 6-monatigen Arbeitsdienst zu verrichten. Wenn Frauen keine Einsicht zeigten und außerdem als „schwachsinnig und psychopathisch“ klassifiziert wurden, wurde oft ein Entmündigungsverfahren eingeleitet, womit diese Frauen dann völlig rechtlos der Vormundschaft der Fürsorge ausgeliefert waren.
Im Februar 1927 wurde das „Reichsgesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ verabschiedet. Mit diesem Gesetz hatte die Prostitution ihren Deliktcharakter verloren und war quasi erlaubt, ausgenommen in der Nähe von Schulen, Kirchen und Kindern allgemein. Die polizeiliche Reglementierung wurde durch eine Gesundheitskontrolle abgelöst und die Kasernierung ausdrücklich verboten. Die Verpflichtung sich bei vorliegender Geschlechtskrankheit untersuchen zu lassen, galt nun für jeden. In Hamburg existierten 1928 ganze fünf Fürsorgestellen für Geschlechtskranke, deren größte sich in der Gesundheitsbehörde am Besenbinderhof und im Krankenhaus St. Georg befanden. Beratung und Behandlung waren kostenlos. Zu den bisherigen Klienten kamen nun auch die Prostituierten hinzu. Die Kuppeleiparagraphen §180 und §181 StGB blieben im Inhalt gleich, demnach war der Unterhalt eines Bordells oder bordellartigen Betriebes strafbar. Doch trotz der endgültigen Schließung aller Bordelle im Oktober 1927 existierten sogenannte „Massagesalons“ und „Heilinstitute“ weiterhin.
Die wirtschaftliche Notlage während der Weltwirtschaftskrise und der damit zusammenhängende Anstieg der Straßenprostitution, gaben der Sittenpolizei Möglichkeiten ihren durch die neue Gesetzeslage verlorenen Kompetenzbereich wiederzugewinnen. Mit Hilfe des Paragraphen 22, dem sogenannten Verhältnisgesetz, konnten Personen die „die öffentliche Ordnung störten“ bis zu 24 Stunden festgenommen werden. Dieser Paragraph wurde zu einem Instrumentarium der Sittenpolizei um gegen die Straßenprostitution vorgehen zu können. Weitergehend setzte die Polizei ihre Vorstellung der Bekämpfung und Kontrollierung der Prostitution durch, indem sie ab 1930, entgegen der eindeutigen Gesetzeslage, wieder begann bestehende Bordelle stillschweigend zu dulden. Hamburg war aufgrund der wirtschaftlichen Lage zum ökonomischen Notstandsgebiet erklärt worden. In Hamburg wirkte sich die Weltwirtschaftskrise wegen der Auslandsabhängigkeit der Hamburger Hafenwirtschaft besonders stark aus. Die Krise führte zu einem Rückgang des deutschen Außenhandels von 1928 bis 1932 auf 60% in Bezug auf die Menge und 38% in Bezug auf den Wert. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Hamburger Arbeitslosen von 50.000 auf fast 165.000. Die meisten Erwerbslosen erhielten in Hamburg durch die Versicherung ein halbes Jahr etwa 40%, 1932 nur noch 20-30% ihres früheren Einkommens. Im Anschluss danach konnten sie bei nachgewiesener Hilfsbedürftigkeit ein Existenzminimum durch die kommunale Wohlfahrt erhalten.
Freund-Widder Michaela, 2003, „Prostitution und ihre staatliche Bekämpfung in der Freien und Hansestadt Hamburg vom Ende des Kaiserreichs bis zu den Anfängen der Bundesrepublik“, Lit-Verlag, Münster
Knack U.B., 1921, “Groß Hamburg im Kampfe gegen Geschlechtskrankheiten und Bordelle“, Verlagsanstalt Auer in Hamburg
Pelc Ortwin, 2002, „Hamburg, die Stadt im 20.Jh.“, Convent-Verlag, Museum f. Hamburgerische Geschichte
Urban Alfred, 1927, „Staat und Prostitution in Hamburg“, Verlag Conrad Behre, Hamburg
Zürn Gabriele, 1989, „Prostitution in Hamburg im „Dritten Reich“ 1933-1945“, Magisterarbeit, Universität Hamburg